Edith Gutsche, Gauben oder Wissen? Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube

Rezension von Dr. Frank Vogelsang

Die Physikerin Edith Gutsche hat ein Buch für ein breiteres Publikum vorgelegt, das in die wichtigsten Fragen des Dialogs zwischen Naturwissenschaften und Theologie einführt. Es wendet sich an Christinnen und Christen, die mit scheinbaren Widersprüchen zwischen dem christlichen Glauben und der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hadern.

Es geht ihr darum, jene „Stolpersteine wegzuräumen, die denkenden Menschen im Weg stehen können.“(S. 13) Das Buch ist allgemein verständlich geschrieben und stellt sich doch auch mit Umsicht schwierigeren Fragen der Erkenntnistheorie und der naturwissenschaftlichen Theoriebildung. Es zielt darauf ab, auch jene Menschen zu erreichen, die nicht über einschlägiges Vorwissen in den Naturwissenschaften verfügen, für die aber die Vereinbarkeit von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und christlichem Glaube ein Problem ist. Um die Fülle der Informationen, etwa neuere Entwicklungen von Relativitätstheorie, Chaostheorie und Quantenphysik zu berücksichtigen und dies mit einer guten Lesbarkeit zu verbinden, hat Gutsche ihr Buch zweigeteilt. In der ersten Hälfte bietet sie einen gut lesbaren zusammenhängenden Text zu dem Verständnis der naturwissenschaftlichen Methoden und ihrer Bedeutung für das Weltbild und den christlichen Glauben, in einem zweiten, fast ebenso großen Teil folgen Vertiefungen in 20 Info-Kapiteln, die ein vertieftes Interesse voraussetzen.

Gutsche beginnt in den ersten beiden Kapiteln mit den Erkenntnisvoraussetzungen der Naturwissenschaften. Es wird sehr deutlich: Die Naturwissenschaften beschreiben nicht einfach das, was ist, sondern verwenden Methoden und Modelle zur Beschreibung der Wirklichkeit, die ihre Stärken, aber auch Begrenzungen haben. Gutsche arbeitet einige dieser Begrenzungen heraus, die allesamt durch die naturwissenschaftlichen Methoden selbst bestimmt sind: Naturwissenschaftliche Theorien können keine „Warum“-Fragen beantworten. Sie setzen grundsätzlich die Wiederholbarkeit der zu beschreibenden Naturereignisse voraus. Sie objektivieren durch die methodisch kontrollierte Erkenntnis das, was sie beschreiben wollen. Weiterhin interessieren sie sich für das Messbare, ästhetische Qualitäten spielen in der Beschreibung der Wirklichkeit keine Rolle. Vor allem aber fertigen sie Modelle von der Wirklichkeit an, sie beschreiben nicht einfach, was ist. Diese Modelle haben eine große Erklärungskraft und doch gibt es immer eine Differenz zwischen den Modellen und der Wirklichkeit, die sie begreifbar machen wollen. All diese Begrenzungen bedeuten keinesfalls eine Minderung  der naturwissenschaftlichen Beschreibungsleistung, im Gegenteil, gerade der „große Erfolg der Naturwissenschaften hängt mit ihren Denkvoraussetzungen zusammen“(S. 16). Und doch sind sie Abstraktionen von der immer umfassenderen Wirklichkeit. Erst die Abstraktion macht es möglich, die Sprache der Mathematik so erfolgreich anwenden zu können. Als Abstraktionen sind die naturwissenschaftlichen Theorien wie Netze, die Fischer auswerfen: Manche Fische bleiben hängen und können untersucht werden, andere, kleinere dagegen entgehen den Netzen.

In dem dritten Kapitel führt Gutsche einige zentrale neuere naturwissenschaftliche Theorien auf, die das klassische Weltbild verändert haben. Dazu gehören in der Physik die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie, die Chaostheorie und die Quantentheorie und in der Biologie die Evolutionstheorie. All dies wird in den Informationskapiteln im zweiten Teil des Buches eingehend vertieft. Im vierten Kapitel kommt sie auf die wichtige Wechselwirkung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und dem Weltbild zu sprechen. Denn wissenschaftliche Theorien sind nicht einfach eineindeutige Abbildungen von empirischen Befunden. Allein die Messdaten führen nicht weiter, sie müssen auch gedeutet werden: „Jede Wissenschaft braucht zusätzlich zu den Messdaten einen Deutungsrahmen. Die Daten sprechen nicht für sich, sie bekommen ihre Bedeutung erst im Rahmen eines Modells.“(S. 71) Gutsche belegt dies an den wegweisenden Erkenntnissen von Isaak Newton und Albert Einstein. Auch wenn es für heutiges Denken ungewöhnlich ist: Newtons physikalische Intuitionen waren auch stark bestimmt durch seinen unitarischen Gottesglauben, er nahm eine einfache und gleichförmige Welt an, die ihn zu den grundlegenden Gesetzen führte. Einstein wiederum störte Asymmetrien und die Existenz eines unbegründeten Zufalls. Letzteres ließ Einstein skeptisch gegen die weitere Entwicklung der Quantenphysik sein. Diese beiden Beispiele zeigen: Naturwissenschaftliche Forschung ist durchaus von Weltbildern beeinflusst, die sich nicht wiederum auf die Wissenschaften zurückführen lassen. Entscheidend ist die Erkenntnis: „Die Naturwissenschaften sind in Bezug auf die ganze Wirklichkeit unterbestimmt.“(S.  87) Insofern sind Weltbilder gar nicht zu vermeiden. Allerdings: Wenn naturwissenschaftliche Theorien begründet werden sollen, dürfen Weltbilder keinen Einfluss haben, sonst kommt es zu Fehlern wie bei Einsteins Interpretationsversuchen der Quantenphysik, die ohne ein Wahrscheinlichkeitskalkül auskommen wollten. Und: An Weltbilder muss man die Mindestanforderung stellen, dass sie den Erkenntnissen naturwissenschaftlicher Forschung nicht widersprechen dürfen (vgl. S. 83). Doch lässt die Differenz prinzipiell auch eine Offenheit für die Aussagen des christlichen Glaubens.

Bevor Gutsche zu der expliziten Thematisierung theologischer Fragen übergeht, stellt sie erst einmal im fünften Kapitel fest, dass auch schon die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, ihre Regelmäßigkeit, ihre Zuverlässigkeit und die Feinabstimmung der Naturkonstanten, die die Welt, wie wir sie kennen, überhaupt erst möglich machen, ein Anlass zum Staunen sind.

In dem abschließenden sechsten Kapitel thematisiert die Autorin das Verhältnis von Naturwissenschaften und Theologie. Zunächst und vor allem stellt sie in Berufung auf Dieter Mutschler fest, dass sich die Naturwissenschaften und die Theologie mit unterschiedlichen Aspekten der einen Wirklichkeit befassen, die Naturwissenschaften mit Regelmäßigkeiten der empirischen Erkundung der Welt, die Theologie dagegen mit existentiellen Fragen wie Schmerz, Sinn, Erlösung, Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Das eine ist nicht wirklicher als das andere, aber sie lassen sich nicht leicht aufeinander zurückführen.  In dem Verhältnis beider macht Gutsche vier Typen aus: 1. Die biblischen Aussagen bekommen das Primat, die Bibel gilt als unfehlbare Quelle. 2. Die Wissenschaft bekommt das Primat, die religiösen Aussagen sind nur noch persönliche Überzeugungen. 3. Glaubens- und Wissenschaftsaussagen korrespondieren miteinander. 4. Glaube und Wissenschaft sind komplementäre Sichtweisen auf ein und dieselbe Wirklichkeit. Im Fazit bleiben bei allen Reflexionen letztlich offene Fragen und wir müssen mit ihnen leben. Hier ist der Hinweis von Edith Gutsche wichtig, dass die Fragen der Lebenswelt gegenüber den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht nachrangig sind. Sie haben eine eigene Würde und Deutungskraft.

Etwas unklar bleibt der Text, wenn die Autorin auf Wunder zu sprechen kommt. So schreibt sie: „Auch sehr unwahrscheinliche Ereignisse kommen zuweilen vor.“(S. 67) Das ist richtig, die Frage ist nur, was diese unwahrscheinlichen Ereignisse bedeuten sollen. Sollen sie eine Hilfe für die theologische Deutung sein? Hier ist auf das Fazit zu verweisen, das Gutsche in der kritischen Behandlung des Intelligent Design zieht. Diese Theorie versucht zwischen einem naturwissenschaftlichen Bereich  und einem religiösen Bereich der Wirklichkeit zu unterscheiden. Dem widerspricht Gutsche: „Christen sollten sich daran erinnern, dass eine Zweiteilung, wie sie hier vorgenommen wird, vom biblischen Zeugnis her fragwürdig ist.“(S. 230) Insofern ist die ganze Welt mit ihren wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Ereignissen sowohl Gegenstand des Wissens als auch immer wieder ein Anlass des Glaubens, sich auf Gott, den Schöpfer zu beziehen.

Der Text gibt viele Anregung zu Diskussionen im Feld zwischen Naturwissenschaften und Theologie. Er versucht nicht alle Fragen zu beantworten, unternimmt es aber, grundlegende Irrtümer zu beseitigen. Damit bietet er eine wichtige Lektüre für Menschen, die den christlichen Glauben und die wissenschaftliche Beschreibung der Welt miteinander in eine konstruktive Beziehung setzen wollen.

 

252 Seiten für 15,95€, Francke Verlag 2019, ISBN 978-3-96362-098-0

Dr. Frank Vogelsang, Bonn im Mai 2020