Das Gaukelspiel. Wie objektiv ist die Außenwelt eines Maulwurfs? Essay wider den Teilchenwahn der Physik von Reiner Groth
Rezension von Frank Vogelsang
Reiner Groth, seines Zeichens Theologe mit langjähriger Erfahrung in der weltweiten Ökumene hat ein Buch veröffentlicht, in dem er sich kritisch mit dem Deutungsanspruch der Naturwissenschaften auseinandersetzt. Seine Motivation zu dieser Auseinandersetzung ist unter anderem bestimmt durch Erfahrungen in anderen Kulturen, in denen die naturwissenschaftliche Deutung der Welt bei weitem nicht den Grad an Selbstverständlichkeit gewonnen hat wie in unserer europäischen Kultur. Vor allem aber ist das Buch eine Polemik gegen ein Verständnis von Wissenschaft, wie es manche Wissenschaftler in populären Büchern zum Ausdruck bringen.
Immer wieder bezieht er sich insbesondere auf die amerikanische Physikerin Lisa Randall und ihr Buch „Knocking on Heaven´s Door. How Physics and Scientific Thinking Illuminate the Universe and the Modern World.“ Der Stil seines Buches ist nicht akademisch-gravitätisch, sondern eher kurzweilig, essayhaft. Groth bevorzugt zugespitzte Formulierungen in einem fiktiven Dialog mit den Grenzwächtern einer falsch verstandenen Wissenschaftsgläubigkeit.
Unter Verweis auf den Skeptiker und Vater aller Essays, Montaigne, beginnt Groth seine Überlegungen bei den leiblichen Erfahrungen, die wir jederzeit machen können. Hier schon kommt er auf eine Formel, die grundlegend ist für seine Position: „Was real ist, ergibt sich aus der Begegnung (…)“. (16) In lateinischer Form lautet die Formel: Esse est percipi in interactione. In eben dieser Weise nähert sich Groth auch dem Verständnis der Zeit: „Die abwechselungsreiche, mit natürlichen Rhythmen unterlegte, aber auch die den Wechselfällen von Entbehrung und Befriedigung unterlegene Zeit ist meinem Leib tausendmal realer als die Uhrzeit (…).“(24f) Der Rezensent kann die Betonung der Eigenständigkeit der alltäglichen Erfahrungswelt sehr gut nachvollziehen, sie entspricht auch Ergebnissen leibphänomenologischer Ansätze, wie sie etwa der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty ausgearbeitet hat. Berücksichtigt man die leibliche Existenz des Menschen, wird man vorsichtig, allzu schnell grundlegende Thesen über die Welt zu verbreiten. „Die Welt an sich (…) ist eine Chimäre“ (32).
Der eigentliche Gegner, an dem sich Groth dann auf dieser Grundlage stehend abarbeitet, sind populärwissenschaftliche Äußerungen wie das Buch von Randall, die leichtfertig mit dem Konzept der Materie hantieren. Die Vorstellung von Materie ist nach Groth allerdings schlicht ein Mythos (35). Doch Groth ist von dem Konzept einer gegebenen passiven Materie als Urgrund der Welt nicht überzeugt. Er setzt dagegen, dass die Welt aus Wechselwirkungen besteht: „Da ist, was Resonanz findet und resonant ist“ (43). Die Materie ist nur eine fruchtlose und spekulative Grenzidee (44). Nach Groth ist dagegen alles, was ist, auch aktiv, nie nur passiv: „Auch unbelebte Körper, die keine Sinnesorgane haben, sind zentrierte Einheiten, die ganzheitlich auf Ereignisse in der Außenwelt reagieren können.“(53) So entsteht die Vorstellung eines kooperativen Universums. „Das ist meine existentielle Forderung an das Universum, dass es sich ko-operativ verhalten und meinen Grundbedürfnissen nach Erkenntnis nicht indifferent gegenüber stehen möge. Natürlich ist meine Anspruchshaltung höchst unwissenschaftlich.“(64) Doch Groth plädiert dafür, seinen Bedürfnissen mehr zu trauen als abstrakten Prozessen. So mag es gelingen, die Rede von der Materie als ein Gaukelspiel zu durchschauen, das nicht auf Wissen basiert, sondern lediglich die Welt verfremdet wiedergibt. An dieser Stelle nun kommt der Theologe zu Wort. In einem auch theologisch durchaus gewagten Schritt führt er nun Gott als Idee ins Feld, mit deren Hilfe die Wirklichkeit besser gedeutet werden könne als mit den abstrakten Konzepten der Wissenschaften. „Die Idee Gottes ist einfach. Ich muss keine Hinterwelt zusätzlich zur mir gegebenen Welt erdichten, sondern nur Gebendes und Gegebenes in eins denken.“(70) Der Substanzaberglaube dagegen sei pseudowissenschaftliche Vielgötterei (73).
Dem Text folgen noch eine Nachrede mit Bezug auf die Evolutionstheorie, ein Gedicht und eine Rede an den toten Newton, dass im ganzen Weltgebäude keine Materie sei. Der Text ist im Ganzen mit Verve geschrieben, er zeugt von dem Engagement des Autors. Allerdings stellen sich dem Rezensenten auch einige Fragen. Die Wichtigste ist die, ob die Philippika gegen das Materie-Konzept wirklich die Physik als Wissenschaft trifft. Denn tatsächlich kennt die Physik im Unterschied zur Masse keine messbare Größe „Materie“. Man sollte deutlicher zwischen den Wissenschaften und ihren (un)gerufenen Deutern unterscheiden. Allerdings nutzen die populärwissenschaftlichen Deuter den Begriff „Materie“ zuhauf und gegen diese ist der Text letztendlich und hier mit Recht geschrieben. Mir scheinen auch einige weiter polemische Zuspitzungen gegen die Wissenschaften wie auch theologische Vorschläge zumindest diskussionswürdig. Dies gilt auch für den theologischen Vorschlag, Gott als Idee zu verstehen, die die Phänomene besser verdeutlicht als das Konzept der Materie. In einem solchen Konzept ist die historisch kontingente Tat der Offenbarung Gottes in Jesus Christus nicht aufgehoben. Der Autor scheint darüber hinaus in manchen Formulierungen sich zu leicht angreifbar zu machen, etwa wenn er sagt, dass in der Quantenwelt die Bewegungsgesetze Newtons außer Kraft gesetzt seien oder wenn er gegen die Evolutionstheorie streitet.
Hier gilt es mE aber das Genre des Buches zu berücksichtigen, es ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Streitschrift, die zuspitzt, einseitig Position beziehen und aufwühlen will. Als solches ist es ein sehr lesenswertes Büchlein, weil der Autor die Herausforderung aufnimmt, die pseudowissenschaftliche Konzepte für die Theologie (und natürlich auch für die Philosophie!) darstellen. Ein verbreitetes Appeasement, das in diesem Feld für die Theologie gar kein Problem sieht, greift sicherlich zu kurz. Wer also die intellektuelle Auseinandersetzung sucht, findet in dem essayistischen Text manch gute Anregung zur Diskussion und zum Weiterdenken.
Frank Vogelsang
Paperback, ISBN 978-3-8440-1400-6, 114 Seiten, Shaker Verlag 2012