Sozialität als Conditio Humana.Eine interdisziplinäre Untersuchung zur Sozialanthropologie in der experimentellen Ökonomik, Sozialphilosophie und Theologie von Rebekka A. Klein
Rezension von Dr. Andreas Losch
„Fatale Nächstenliebe“ hat die ZEIT einmal in einem kurzen Artikel reißerisch getitelt und damit auf die Bedeutung des Hormons Oxytocin für die Gruppen-Bildung hingewiesen, wie wir in unserer Presseschau dargelegt haben. Anders als diese missverstehende Interpretation eines zentralen theologischen Topos ist für die Autorin des hier besprochenen und mit dem Karl-Heim-Preis 2009/2010 ausgezeichneten Buches zwischenmenschliche Sozialität, also Nächstenliebe, für das Verständnis der Humanität des Menschen von zentraler Bedeutung.
Damit grenzt sich die Autorin von einer biologistischen Reduktion des Menschen auf die Erkenntnisse der Neurobiologie ab, wie sie eine Gruppe von Neuroökonomen an der Universität Zürich, deren Projekt die Autorin zugeordnet war, postuliert. Wer sich nicht nur für den Dialog der Theologie mit den Naturwissenschaften, sondern auch mit der Ökonomik interessiert, ist mit diesem Buch daher gut bedient.
Hermeneutischer Ansatz
Rebekka A. Klein will das Phänomen der menschlichen Sozialität in den Blick nehmen, wie es sich von den Perspektiven der verschiedenen Disziplinen noch einmal unterscheiden lässt: als da sind neben der neurobiologisch verankerten Präferenzstruktur des menschlichen Verhaltens in der Neuroökonomik die Grundstruktur von Differenz und Relationalität im zwischenmenschlichen Verhältnis in der Sozialphänomenologieund Ethik und eine Struktur des menschlichen Verhältnisses zu Gott und seinem Nächsten in der Theologie. Da diese Perspektiven nach Überzeugung der Autorin (und gegen den neuroökonomischen Ansatz) nicht aufeinander aufbauen, wird ein hermeneutischer Ansatz versucht, der davon ausgeht, dass die einzelnen Perspektiven der Untersuchung ihren Gegenstand auf je verschiedene Art und Weise thematisieren und darstellen. Die Humanität des Menschen entzieht sich dabei der Methode, bleibt unverfügbar.
Kritik an ökonomischen Modellierungen
Das Modell des Homo oeconomicus, nachdem sich der Mensch in wirtschaftlichen Fragen rein rational verhält, ist dabei auch in der experimentellen Ökonomik längst verabschiedet. Diese unterscheidet zwischen egoistischen, reziproken und altruistischen Akteuren; gut verständlich stellt die Autorin im zweiten Kapitel die damit verbundenen spieltheoretischen Modelle vor.
Der synthetische Forschungsansatz der Neuroökonomik stellt sich allerdings als konsequente Fortsetzung einer innerhalb der Wirtschaftswissenschaften angebahnten Entwicklungstendenz heraus. Die Ökonomik versucht, das soziale Zusammensein als Erweiterung des rationalen Entscheidungsverhaltens von Individuen um ein spezifisches Vorherwissen, nämlich das Vorherwissen um die Entscheidungen anderer, verständlich zu machen. Die dazu fehlenden Grundeinsichten einer Hermeneutik und Phänomenologie des menschlichen Miteinanders versucht sie durch eine Methodensynthese mit der Neuropsychologie nun wieder zu gewinnen. Die interne Kritik der Ökonomen gilt dabei keiner grundsätzlichen Methodenfrage, sondern der Absicherung der eigenen Ergebnisse.
Ihre Kritik an diesem Modell des Menschen fasst die Autorin in vier Punkten zusammen. So vernachlässigt dieses 1. den Aspekt der natürlichen Wechselwirkung zwischen Menschen, deren Wahrnehmung und Kommunikation ein Teil ihrer Interaktion ist, stellt 2. den Menschen reduktionistisch dar, insofern sie eine nicht-empirische Betrachtung des Menschen für nicht relevant erklärt, führt 3. den menschlichen Verhaltensspielraum behavioristisch eng und fragt 4. nicht nach der Motivation der durch ihren Formalismus typisierten Menschen. Entsprechend fallen dann die abschließenden Thesen der Autorin aus, von denen nur die dritte hier besonders hervorgehoben werden soll: das menschliche Interaktionsgeschehen ist auch vom Anspruch auf wechselseitige Anerkennung der Unverfügbarkeit des einen für den anderen getragen.
Über Hobbes hinaus
Im folgenden dritten Kapitel der Arbeit wird dann das Gespräch mit sozialphilosophischen und ethischen Ansätzen gesucht, die sich explizit der Frage zuwenden, was die Struktur sozialer Interaktionen auszeichnet. Das erste Augenmerk gilt dabei Hobbes, der von der experimentellen Ökonomik bemüht wird, um an dessen philosophischem Gedankenexperiment von einem Naturzustand vor dem gesellschaftlichen Zusammenschluss der Menschen in einer Staats- und Rechtsgemeinschaft anzuknüpfen: es wird empirisch fundiert, in Richtung auf die Prosozialität des Menschen korrigiert, und erweitert. Dabei blendet die Ökonomik aber die Konstruktivität der eigenen Methode aus, die im Widerspruch zu ihrem Naturverständnis steht, das zeigen will, wie die Natur „an sich“ ist.
Gegen die Vorstellung, dass sich Konflikte und Antagonismen zwischen Menschen aus der Beschreibung der sozialen Realität wegdenken und durch einen Gesellschaftsvertrag aus der Welt schaffen lassen, wenden sich die Theorien von Laclau und Mouffe; für diese sind die Antagonismen für eine demokratische Gesellschaft gerade konstitutiv. Die Autorin skizziert darüber hinaus die Ansätze von Honneth, Taylor, Düttmann und Ricoeur, wobei ihre Sympathie mit Ricoeurs Modell deutlich wird. Den Übergang zum theologischen Zugang zum Thema bildet die Philosophie Levinas‘, in dessen Zentrum der Begriff der Alterität steht, der eine Unverfügbarkeit des anderen in der zwischenmenschlichen Begegnung bezeichnet, die weder in Widerstreit noch Anerkennung, sondern in Verantwortung gegenüber dem anderen mündet.
Christologisch interpretierte Nächstenliebe
Die Ambivalenz der zwischenmenschlichen Begegnung aber bleibt und macht eine theologische Sozialanthropologie mit der Konzeption des Nächsten Gottes erforderlich. Diese liefert Klein dann im vierten und letzten Kapitel. Dort wird die durch die Gegenwart Gottes gewirkte Selbstunterscheidung der alten und neuen Existenz des Menschen zum hermeneutischen Schlüssel, mit dem Menschsein als Spannungsverhältnis zu verstehen ist. Der Überschuss an Menschlichkeit, der durch Jesus Christus in die Welt gekommen ist, und in dem sich Gott noch einmal neu dem Menschen zugewandt hat, kann theologisch durch die Darstellung des Menschen als eines Nächsten Gottes bezeichnet werden.
So geht es im folgenden Paragraph auch um die „biblische und hermeneutische Rede vom Nächsten“, in der Klein allerdings nur wenig berührt von den Einsichten des jüdisch-christlichen Dialogs konstatiert, dem Nächstenliebegebot komme im Alten Testament keine zentrale Stellung zu. Dagegen macht z.B. Flusser deutlich, dass dieses Gebot „eine grosse Hauptregel im Gesetz“ genannt wurde (David Flusser, Jesus, Reinbek 1999, 75). An anderer Stelle weiß auch die Autorin von dem Liebesgebot als „Zusammenfassung der Tora“ zu berichten (S. 283), und um einen solchen Klal Hatorah geht es ja auch in der rabbinischen Auslegung (Paul Mendes-Flohr, Love, Accusative and Dative, New York 2007, 5).
Die Frage bleibt, ob die christologische Aufladung des Nächstenliebegebotes, wie die Autorin sie vornimmt, unbedingt notwendig ist. So schön der Autorin dies auch gelingt, der Dialog mit anderen Religionen, insbesondere mit dem Judentum, wird so jedenfalls erschwert.
Ein interessantes Ergebnis bringt die hermeneutische Analyse des Wortes ‚Nächster‘ zutage, insofern „von der Nähe nicht ohne Ferne und von der Ferne nicht ohne das Nächstliegende die Rede sein kann“ (S. 251). In weiten Teilen des Kapitels widmet sich die Autorin sodann Kierkegaards Interpretation des Liebesgebotes zu. Die Nächstenliebe zeichne sich demnach gerade dadurch aus, dass sich für Sie nach menschlichem Urteil keine Motivation und kein Motiv des Handelns benennen lassen; dies im Gegensatz zur zwischenmenschlichen Liebe, die von der Selbstliebe beherrscht werde. In kreativer Aufnahme der Kritik am Kierkegaard wird dann auch das Phänomen der Unbarmherzigkeit gedeutet: „In der Beschreibung der Phänomene der Barmherzigkeit und der Unbarmherzigkeit treten der phänomenale Überschuss und die phänomenale Leerstelle der zwischenmenschlichen Sozialität zutage.“ (S. 287)
Fazit
Kleins Arbeit ist ein überzeugendes Plädoyer dafür, die Wirklichkeit des Menschen nicht nur auf eine Perspektive – insbesondere nicht nur die neuroökonomische – zu reduzieren. In jedem der diskutierten Zugänge auf das Phänomen der menschlichen Sozialität lassen sich interessante Aspekte finden und das In-Beziehung-setzen dieser Zugänge macht den Wert des Buches aus. Weiterführend wären im zweiten Kapitel natürlich auch Ausführungen zur möglichen biologistischen Ausrichtung der Spieltheorie gewesen, so z.B. die Nähe zu Dawkins‘ „Egoistischem Gen“ und der dem entgegengesetzte kooperative Ansatz Martin Nowaks. Doch diese Konvergenzen wären sicher ebenso eine eigene Untersuchung wert.
Das theologische Kapitel hätte sicherlich noch intensiver auf den Ursprung des Liebesgebotes im jüdischen Kontext reflektieren können, insbesondere wenn man zuvor Levinas bemüht (vielleicht wäre Franz Rosenzweig als Inspirator von Levinas und Rezeptor von Kierkegaard hier eine interessante Brücke gewesen), aber auch so bietet das Kapitel einen interessanten, wenn auch ergänzungsbedürftigen, Einblick in die christliche Diskussion um das Liebesgebot.
Die Strukturierung in Paragraphen ist etwas gewöhnungsbedürftig und sprachlich bleibt die Autorin etwas stark der jeweiligen Fachsprache verhaftet. Das Buch ist jedoch klar geschrieben und für knapp 50 € recht preisgünstig für ein Hardcover.
Die Sache mit dem Oxytocin wird von der Autorin übrigens am Rande erwähnt. Einer spieltheoretischen Studie nach ließen sich Probanden mit erhöhtem Oxytocinspiegel zu riskanteren Angeboten gegenüber ihrem Interaktionspartner hinreißen. Nächstenliebe, wie sie die Autorin uns als eigenständige anthropologische Perspektive nahegebracht hat, ist dies jedoch sicher nicht.
325 Seiten, Edition Ruprecht 2010 ISBN 978-3767571372
Dr. Andreas Losch, Duisburg im August 2011