Digitale Tyrannophilie – Ein medialer Sieg des Dualismus über den Monotheismus?
Leitartikel von Michael Blume
Vor vielen Jahren erwarb ich mir in China eine sogenannte „Mao-Bibel“, eine Sammlung der „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung“ (Foto). Mich beunruhigte, wie ein autoritärer Herrscher im Zuge der von ihm proklamierten „Kulturrevolution“ auch nahezu alle Institutionen zerschlagen konnte, die ihm Einhalt hätten gebieten können.
Ehrlich gesagt fürchte ich, dass wir heute bereits einige beunruhigende Schritte weiter sind. Der heutige Herrscher Chinas – Xi Jinping – vereinigt nicht nur den Posten des KP-Generalsekretärs, des Vorsitzenden der Militärkommission und des Staatspräsidenten auf sich, sondern ließ auch 2018 die nach Mao erlassene Amtszeitbegrenzung wieder aufheben. Faktisch wurde er zum derzeit mächtigsten Politiker der Erde und „Obersten Führer“ (Zuigao Lingdaoren) auf Lebenszeit. Die lange Phase der religionspolitischen Öffnung wurde unter Xi Jinping weitgehend aufgegeben, stattdessen ein massives Vorgehen insbesondere gegen die muslimischen Uiguren und tibetanischen Buddhisten verbunden mit wachsendem Druck auf Kirchen und weitere Religionsgemeinschaften, sich dem Regime zu unterwerfen. Auch die Demokratiebewegung in Hongkong wird autoritär niedergehalten.
In europäischen Medien und Diskussionen geht es oft um den Ausbau des digitalen Sozialpunktesystems, mit dem das Leben der chinesischen Bürgerinnen und Bürger immer umfassender erfasst und „bewertet“ wird. Auch die „chinesische Firewall“, hinter der nicht nur mächtige Konzerne erblühen, sondern auch ganze Ereignisse wie die Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens von 1989 aus dem medialen Gedächtnis getilgt werden, ist immer wieder Thema. Weniger wahrgenommen wurde dagegen eine App, zu deren Herunterladen täglich mehr Menschen verpflichtet werden und die den Ansatz der „Mao Bibel“ digital eskalierte: Hier gibt es nicht nur täglich auch neue Worte des Präsidenten zu lesen, Videos und noch ein Punktesystem für Lektüre und Quizfragen in den Morgen- und Abendstunden samt „Wettbewerben“ zwischen KP-Gliederungen - sowie eine eingebaute Komplettüberwachung des Gerätes und seiner Daten. Wer will sich denn auch dem Verdacht aussetzen, etwas zu verbergen zu haben? Noch nie war es möglich, dass ein einzelner Politiker so direkt mit seiner Anhängerschaft vernetzt wird, ja geradezu mit Millionen Untergebenen verschmilzt.
Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die chaotischen Wahlen um die US-Präsidentschaft und die fanatisierte Anhängerschaft des Dauer-Twitterers Donald Trump sowie die lange Herrschaft weiterer Autoritärer bis in die Europäische Union hinein nicht mehr einfach als „Unfall“ auf dem Weg eines linearen Fortschritts. Wir müssen uns vielmehr der sowohl theologisch wie medienpsychologisch drängenden Frage stellen, ob die Digitalisierung nicht die klassischen Formen der Gewaltenteilung wie auch der Trennung von Religion(en) und Staat aufhebt. Was die Autoritären des 20. Jahrhunderts mit den damaligen Massenmedien wie Radio und Film anfingen kann nun buchstäblich bis an (und in) die Herzen der je eigenen Anhängerschaft „dauergestreamed“ werden. Unsere Evolution hat uns mit einer Psychologie ausgestattet, die auf die Dauerpräsenz mächtiger Anführer kaum anders als mit Unterwerfung oder Abwanderung zu reagieren vermag.
Als Erlöser und Gottgeweihte erleben bereits heute Millionen politische Führer, die sich als unerschrockene Kämpfer gegen vermeintliche Weltverschwörungen präsentieren und keine anderen Götter mehr neben sich dulden. Und an die Stelle eines aufgeklärten Monotheismus, der auch in der Andersdenkenden und dem Andersglaubenden ein Ebenbild Gottes und also Lernchancen zu entdecken vermag, tritt damit der Dualismus, der in jeder Abweichung oder auch nur kritischen Frage urböse Feindschaft erblickt. Wir hätten dann nur noch die Wahl, welchem digital dauerpräsenten Anführer wir unsere Liebe, Glaube, Hoffnung schenken. Es wäre dies das Ende nicht nur der demokratischen Parteien, sondern auch der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, wie wir sie kennen. Oder in den Worten des Vorsitzenden Mao: „Wenn wir vom Feind bekämpft werden, dann ist das gut; denn es ist ein Beweis, daß wir zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennstrich gezogen haben.“ (S. 18)
Michael Blume
Veröffentlicht im November 2020
Dr. Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschaftler, Buchautor & Wissenschaftsblogger und lehrt Medienethik am KIT Karlsruhe. Der evangelische Christ ist mit einer Muslimin verheiratet, die beiden haben drei gemeinsame Kinder.
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Bildnachweis
Titelfoto: „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung“ von 1967, Michael Blume (2020)