Die Gabe: Teilen, geben und schenken bei Menschen und anderen Tieren

Leitartikel von Alexander Massmann

November und Dezember sind die betriebsamsten Monate im Einzelhandel: Im Weihnachtsgeschäft 2019 werden Kunden in Deutschland vermutlich zum ersten Mal über 100 Milliarden Euro ausgeben. Kinder bekommen ihren Adventskalender und freuen sich über Süßes; in Familien und unter Freunden wird das Weihnachtswichteln vorbereitet, doch manchmal "wackelt der Schwanz mit dem Hund" – das Kaufen und Schenken bestimmt Weihnachten und nicht umgekehrt. Doch gerade aus christlicher Sicht ist es kein Zufall, dass wir zu Weihnachten schenken.

Der Apostel Paulus beschreibt Gottes Gnade und letztlich Christus selbst als Gottes Geschenk (z. B. 2. Korinther 9). Das Geben und Schenken scheint etwas grundlegend Menschliches zu sein, auch wenn es verschiedene Formen annimmt. Doch ist es etwas unterscheidend Menschliches, oder verbindet uns das Geben mit anderen Geschöpfen? In einem Kurzfilm haben Freunde und ich diese und andere Fragen gestellt, nicht nur im Gespräch z.B. mit Biologen, sondern auch mit Sozialarbeitern und anderen. Dieser Aufsatz diskutiert das Thema der Gabe unter etwas anderen Gesichtspunkten.

Schon in der Natur und der Tierwelt beobachten wir das Geben und Teilen. Dass Vampir-Fledermäuse nachts ausfliegen, um anderen wilden Tieren eine Portion Blut abzunehmen, klingt gruselig; doch wer dabei leer ausgeht, kann später beim Fledermaus-Nachbarn oft einen Schluck abbekommen.  Beachtlich auch, dass der Empfänger sich später revanchiert und dem Spender zurückgibt. Das ist nicht nur unter engen Verwandten der Fall. Die Initiative zu teilen geht sogar vom Spender selbst aus und beruht nicht auf dem Betteln der Hungrigen. Dem Motto, „wie du mir, so ich dir“ – im Positiven, aber nicht durch Vergeltung – folgen viele Tiere, u.a. Ratten, Impala und Affen, aber auch bestimmte Vögel und Fische. Sogar Bäume teilen Nährstoffe miteinander, durch die unterirdischen Verbindungen, die Pilze zwischen den Wurzeln herstellen (das sog. „wood-wide web“). Das gegenseitige Geben und Nehmen sorgt dabei für stabile soziale Verbindungen, von denen alle profitieren.

Solche Formen des Teilens unter Tieren werden oft nicht sachgemäß beschrieben, weil wir einen Gegensatz von Altruismus (jemand anderem nützen ohne eigenen Vorteil) und Egoismus (einen Vorteil genießen ohne anderen Gutes zu tun) annehmen. Reziprokes Geben ist aber weder egoistisch noch altruistisch, und deshalb hat etwa auch Richard Dawkins Schwierigkeiten mit der Verhaltensstrategie „wie du mir, so ich dir“. Er möchte ja die Evolution als grundlegend egoistisch beschreiben - und den Menschen ebenfalls (zumindest in den ersten beiden Auflagen seines Bestsellers „Das egoistische Gen“). Gewiss geht es in der Natur oft egoistisch zu. Wenn jedoch die Maxime gilt, „wie du mir, so ich dir“, dann geraten Tiere, die andere konsequent egoistisch ausnutzen, schnell in die Minderheit.

Eine verbreitete Reaktion auf das „egoistische“ Bild der Evolution ist wiederum der Versuch, die altruistische Seite im Verhalten bestimmter Tiere hervorzuheben. Verschiedentlich argumentiert der Primatenforscher Frans de Waal so, und auch hier lässt sich tatsächlich einiges Interessantes vorbringen. Wir sollten aber nicht zum Gefangenen unserer typischen sozialen Kategorien – Egoismus vs. Altruismus – werden. Egoistisches wie altruistisches Verhalten ist zwar biologisch relevant, doch die Wirklichkeit der Evolution erschöpft sich nicht darin. Vielmehr umfasst sie auch das reziproke Geben, das weder altruistisch noch egoistisch noch beides zugleich ist.

Hier kann man einwenden, dass das wechselseitige Geben und Nehmen doch etwas schnöde sei – Menschen dagegen schenken frei und ohne Bedingungen. Doch so stimmt das nicht: Auch Weihnachtsgeschenke folgen oft Erwartungen und vorherigen Gaben, und das macht sie nicht weniger frei oder großzügig. Mathematiker sind ja auch nicht weniger frei, wenn sie der Sachlogik ihrer Materie folgen. Gabe und Gegengabe spielen eine bedeutende Rolle im Alltagsleben, wie Umfragen zeigen: wer viel gibt, kann sich oft auch an Gegengaben erinnern. Interessanterweise ist das in Westeuropa besonders der Fall bei Frauen und bei jüngeren Menschen. Männer nehmen häufiger diejenigen beruflichen Positionen ein, in denen sie Gegenleistungen in aller Form einfordern können. Abseits dessen finden sich viele in einer gesellschaftlichen Nische, in der sie informell durch Gabe und Gegengabe soziales Kapital sammeln und Verbindungen pflegen. Diese gesellschaftliche Rollenverteilung ist zwar ungerecht. Doch einseitig dasjenige Schenken zu idealisieren, das nicht fragt, ob sich jemand erkenntlich zeigt, ist unrealistisch und ebenfalls unfair. In Gabe, Dankbarkeit und Gegengabe vollziehen wir unser Leben in vielfachen sozialen Bindungen.

Davon zu unterscheiden ist allerdings ein strategisches Geben, das bloß auf eine bestimmte Gegengabe aus ist und soziale Beziehungen also bloß als Mittel zum egoistischen Zweck sieht. Ein Schimpansenforscher hat beobachtet, wie ein Alpha-Männchen anderen Fleisch wegnahm, das sie erjagt hatten, um es dann ausschließlich unter seinen Unterstützern zu verteilen. Auch hier teilen Menschen vieles mit den tierischen Verwandten. Große internationale Museen wollen beispielsweise nicht mehr die großen Spenden der amerikanischen Sackler-Familie annehmen. Die Familie hat sich mit ihrer Pharmafirma eine goldene Nase verdient und machte sich dann als extrem großzügiger Sponsor einen Namen. Doch nun wird deutlich, wie das Schmerzmittel ihrer Firma vielfach in die Abhängigkeit führte und zu den über hunderttausend Todesfällen der „Opioid-Crisis“ beitrug. Fast 2.700 Mal wurde Klage eingereicht, mit dem Vorwurf, dass die Familie bewusst mit immensem Leid Geld verdient hat. Der Verdacht liegt nahe, dass sich die Familie mit großzügigen Spenden reinwaschen wollte. Das Motto „quid pro quo“ – oder der Kuhhandel – fasst auch unter Menschen das Wesen der Korruption zusammen.

Außerdem kann reziprokes Geben andere ausschließen. In der Tierwelt lässt sich etwa unter Pavianen beobachten, dass bestimmte Tiere bevorzugt miteinander teilen und dabei diejenigen ausschließen, von denen sie wenig profitieren. Auch unter Menschen genießen Familien geringere soziale Teilhabe, wenn sie sich etwa Geburtstagsgeschenke für die Freunde der Kinder nicht leisten können. Das Geben ist also ein zwiespältiges Phänomen – wie wir in anderer Form auch beim Weihnachtskommerz gesehen haben.

Aus theologischer Sicht durchbricht Gottes Gnade gerade solche Beziehungen, in denen Menschen unrealistische Leistungen erbringen müssen, um etwas zu gelten. Das muss aber nicht bedeuten, dass der Altruismus – je selbstloser, desto besser – pauschal an die Stelle von Gabe und Gegengabe tritt. Der Apostel Paulus drückte die bedingungslose Geltung von Gottes Gnade mit dem Gedanken aus, dass Christus für die Menschen starb, als sie Gottes Feinde waren (Römer 5). Daraus folgt aber nicht, dass Christus auf auf solche Weise selbstlos gehandelt hat, dass Menschen nun genauso gut auch Feinde Gottes bleiben könnten. Vielmehr ist bisweilen ein Opfer nötig, um eine Beziehung erst möglich zu machen. Wenn es um essentielle Dinge geht, ist in der Tat der Begriff des Opfers angebracht, der punktuell die alltägliche Logik von Gabe und Gegengabe durchbricht, um ein Miteinander von Gabe und freier, großzügiger Antwort wieder zu ermöglichen.

 

Die neue Kurz-Dokumentation “Give and Take” diskutiert, was es mit der Gabe auf sich hat: Weshalb geben wir, und wie verstehen wir unser Geben? Dass schon junge Kinder gerne geben, ist kein Zufall angesichts unseres evolutionären Erbes des Teilens. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen dem Geben unter Menschen und Tieren. Wir sind im Gespräch mit Biologen und einer Psychologin, aber auch Theologen, einem Politikwissenschaftler und einer Sozialarbeiterin. Original mit deutschen Untertiteln.

Alexander Massmann
Veröffentlicht im Dezember 2019

Alexander Massmann ist als Associate Lecturer an der theologischen Fakultät der Universität Cambridge (GB) tätig. Er arbeitet u.a. zum Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften und Medizinethik.

Zum Weihnachtsgeschäft: Handelsverband Deutschland, “HDE erhöht Jahresprognose auf +3,2 Prozent: Handel erwartet über 100 Milliarden Euro Umsatz im Weihnachtsgeschäft”, 7. Nov. 2019, https://einzelhandel.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12432 (aufgerufen am 5.12.19) (100 Milliarden Umsatz umfasst nicht die Umsatzsteuer).

Artikel über Reziprozität im Tierreich sind Legion. Vgl. z.B. Gerald G. Carter and Gerald S. Wilkinson, “Food Sharing in Vampire Bats: Reciprocal Help Predicts Donations More than Relatedness or Harassment,” Proceedings of the Royal Society B 280, no. 1753 (2013): 20122573; Eric A. Fischer, “Egg Trading in the Chalk Bass, Serranus tortugaram, a Simultaneous Hermaphrodite,” Zeitschrift fürTierpsychologie 66 (1984): 143–51; Manfred Milinski, “TIT FOR TAT in Sticklebacks and the Evolution of Cooperation,” Nature 325, no. 6103 (1987): 433; J. David Ligon and Sandra H. Ligon, “Reciprocity in the Green Woodhoopoe (Phoeniculus Purpureus),” Animal Behaviour 31 (1983): 480–89; Benjamin L. Hart and Lynette A. Hart, “Reciprocal allogrooming in impala, Aepyceros melampus,” Animal Behavior 44 (1992), 1073–83; Thomas Zentall, “Reciprocal Altruism in Rats: Why Does It Occur?,” Learning & Behavior 44 (2016): 7–8; Suzanne W. Simard et al., “Reciprocal Transfer of Carbon Isotopes between Ectomycorrhizal Betula Papyrifera and Pseudotsuga Menziesii,” New Phytologist 137 (1997): 529–42;

Zur Reziprozität in der gegenwärtigen Gesellschaft (einschließlich der potentiell ausschließenden Wirkung): Aafke Komter, Social Solidarity and the Gift (Cambridge: Cambridge University Press, 2004).

Ein Schimpansen-Alpha-Männchen verteilt Fleisch allein unter seinen Unterstützern: Toshisada Nishida, Chimpanzees of the Lakeshore: Natural History and Culture at Mahale (Cambridge University Press, 2012).

Zum reziproken Verhalten unter Pavianen, das ebenfalls ausschließende Wirkung haben kann: C. Packer, “Reciprocal Altruism in Papio Anubis,” Nature 265, no. 5593 (1977): 441.

Zur Sackler-Familie: Sam Roberts, “Beverly Sackler, 95, Dies; Philanthropist and Purdue Pharma Director,” The New York Times, 15. Okt. 2019, https://www.nytimes.com/2019/10/15/business/beverly-sackler-dead.html (Aufruf am 6. Dez. 2019).

Bildnachweis

"Top view of wrapped present with yellow ribbon on grey background" Adobe Stock #237567585 © LIGHTFIELD STUDIOS

"Close up small sleeping horseshoe bat covered by wings, hanging upside down on top of cold natural rock cave while hibernating. Creative wildlife photography. Creatively illuminated blurry background." Adobe Stock #255703698 © Martin

Warum schenken wir?

Ist schenken ein natürliches Phänomen?

Alexander Massmann ist der Ansicht, das Teilen, Geben und Schenken sei beim Menschen "und anderen Tieren" weit verbreitet. Aus christlicher Perspektive ergänzt er dazu einen besonderen Grund. Warum meinen Sie, schenken wir Menschen uns etwas, und warum zu Weihnachten? Was ist ihre Motivation oder schenken Sie gar nichts?

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