Heute von der Seele reden …
Leitartikel von Dirk Evers
Die Seele ist in Verruf geraten. Zumindest in der empirischen Wissenschaft, in der Neurophysiologie und Hirnforschung spielt sie keine Rolle mehr, ist der Gebrauch dieses Begriffs vielmehr verdächtig. Dem steht die Hartnäckigkeit gegenüber, mit der sich der Seelenbegriff im alltäglichen Sprachgebrauch gehalten hat. Wir müssen deshalb klären: Wofür steht der Seelenbegriff eigentlich? Wofür kann er noch stehen? Brauchen wir ihn, ist er unverzichtbar?
Mir scheint, dass dabei zwei problematische Strategien besonders häufig vorkommen und Anlass für vielfältige Missverständnisse bilden. Zum einen wird der Seelenbegriff oft diskreditiert und ausgetrieben, um dann aufgrund empirischer Erkenntnisse darüber aufzuklären, was denn die Seele ‚wirklich‘ sei, und es folgen dann Sätze, die mit ‚Die Seele ist im Grunde nichts anderes als …‘ beginnen. Es besteht jedoch der begründete Verdacht, dass damit die Phänomene, die mit dem Begriff der Seele eingefangen werden sollen, reduziert werden auf etwas, was sie nicht sind. Bei den Verfechtern eines Seelenbegriffs entsteht andererseits oft der Eindruck, dass sie um des Festhaltens an traditionellen und überkommenen Konzepten willen die ‚Wirklichkeit‘ der Seele behaupten, an die dann religiöse oder weltanschauliche Vorstellungen angeschlossen werden, ohne diese Rede von der Seele einer kritischen Analyse zu unterwerfen.
Meine Antwort auf die Frage, ob wir heute noch von der Seele sprechen können oder gar sollen, kann also kein einfaches Ja oder Nein sein, sondern muss sich damit beschäftigen, wie wir heute gehaltvoll von der Seele sprechen können. Der Seelenbegriff steht, nach meinem Eindruck, heute eher als Platzhalter für etwas, was wir in unseren Intuitionen und Überzeugungen zusammenhalten wollen, was aber durch eine objektivierende Betrachtung auseinander zu fallen droht. Er erscheint mir nützlich und aus historischen und kulturellen Gründen unverzichtbar, weil er zusammenhält, was sonst unter dem Druck bestimmter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden auseinanderfallen würde, und indem er hinweist auf noch ausstehende Erklärungsleistungen und wohl auch Grenzen gegenwärtiger Methodik und Theoriebildung. Er steht aber in der Gefahr, eine quasi substanzhafte Seele als Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit zu postulieren und in einen problematischen Dualismus abzugleiten. Werfen wir also zunächst einen Blick in die Geschichte des Seelenbegriffs.
Zur Geschichte des Seelenbegriffs
Der abendländische Begriff der Seele ist ursprünglich die Bezeichnung für das in Atem und Körperwärme sich manifestierende Lebensprinzip von Menschen und Tieren. Der altgriechische Begriff der psyché ist in den klassischen Texten ursprünglich eng mit dem Körper und seinen Funktionen verknüpft. Etymologisch hängt er zusammen mit dem Verb psycheîn (hauchen) und bezeichnet bei Homer den Lebensodem, der durch den Mund (aber auch die Wunde) den Sterbenden verlässt. Leib und Seele werden als Begriffspaar deshalb bei Homer nie für die Lebenden gebraucht, sondern nur für die Sterbenden. Wenn die Seele den Leib verlässt, bleibt ein Leichnam zurück. Ganz ähnlich findet sich der umgekehrte Vorgang der Beseelung in der zweiten Schöpfungserzählung in Gen 2,7 beschrieben: nachdem Gott den Menschen Adam aus Ackerboden (hebräisch adamah) geformt hatte, blies er ihm den Lebensodem in die Nase, und so wurde der Mensch zu einer lebendigen Seele. Schon etymologisch hat der ursprüngliche Begriff der Seele also seinen Anhalt an der Beobachtung, dass sich Lebewesen durch ein sich im Lebensatem manifestierendes Prinzip von der unbelebten Natur unterscheiden. Uns Menschen ist intuitiv klar, dass ein Tier etwas fundamental anderes ist als ein lebloser Gegenstand, und für diese Differenz steht der Begriff der Seele.
Und noch eine weitere elementare menschliche Erfahrung verbindet sich mit dem Seelenbegriff und wird früh greifbar. Nicht nur im Tod scheint die Seele als das Lebensprinzip den Körper zu verlassen, auch im Schlaf und im Traum kann sich die Seele offenbar unabhängig vom Körper verhalten. Im Traum erleben wir fremde Welten, und schon früh wurden Träume auch religiös gedeutet und als Verbindung zu einer jenseitigen Wirklichkeit verstanden. In den ältesten Religionsformen wie dem Schamanismus können zumindest einzelne Personen durch bestimmte Techniken ganze Seelenreisen antreten. Solche Phänomene legten es nahe, die Seele auch als grundsätzlich vom Körper unabhängig zu betrachten. Und so findet sich ebenfalls schon in den homerischen Texten die Vorstellung, dass die Seele nach dem Tod in den Hades wandert und dort, so in der Totenbeschwörung in der Odyssee, als ein Traumbild umherfliegt. Im Umfeld der Pythagoreer und der Orphiker finden wir auch die Vorstellung der Seelenwanderung durch verschiedene Existenzen belegt, die dann Platon beeinflusst hat.
Damit sind wir bei der ersten philosophisch bedeutenden Seelenkonzeption der Antike angelangt, bei Platon. Er verbindet ethische, religiöse und phänomenologische Gesichtspunkte der Tradition zu einem nicht immer einheitlichen Konzept. Auch bei ihm findet sich die Beschreibung der Seele als Hauch, aber sie wird ihrem Wesen nach als unsterblich betrachtet. Es geht bei der Frage nach der Seele auch nicht einfach um Leben oder Nicht-Leben, sondern um die Frage nach dem guten oder schlechten Leben. Die Seele ist der Träger der sittlichen Verantwortung des Menschen, das Vermögen der Lebens- und Charakterwahl, der Ort des Guten und der Tugenden. So begründet sich auch die sokratische Sorge um die Seele (‚Seelsorge‘), die wichtig ist nicht nur für dieses Leben, sondern auch für ihre weitere Wanderung durch die Unterwelt und die Geburten [1]. Ziel ist der Wiederaufstieg der Seele in das unvergängliche Reich der Ideen, woher sie einst kam.
Die Seele steht damit im Gegensatz zum Körper, den Platon auch als das Grab oder Gefängnis der Seele bezeichnet [2]. Der Tod ist dann nichts anderes als die Trennung der Seele vom Leib [3]. Platon differenziert die Seele in einem dreigeteilten Modell: Es gibt das umtreibend Begehrliche, das durch die Tugend der Besonnenheit beherrscht werden soll, das Mutige, das durch die Tugend der Tapferkeit vervollkommnet wird, und das denkend Vernünftige, dessen Tugend die Weisheit ist [4]. Dem Denken als dem höchsten Seelenteil kommt dabei die Rolle des Lenkers der Seele zu,[5] und allein dieser Seelenteil ist auch eigentlich unsterblich.[6]
Während Platon offensichtlich voraussetzt, dass ungefähr bekannt ist, was die Seele ist, und damit an die gängigen Vorstellungen und Alltagsintuitionen anknüpft, sucht sein Schüler Aristoteles noch einmal ganz neu anzusetzen. Für ihn ist es die Aufgabe der Philosophie und der Naturkunde, allererst herauszufinden, was die Seele überhaupt ist. Ausgangspunkt seines berühmten Werkes über die Seele (De anima) ist der kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen Positionen, die Aristoteles ausführlich referiert: „die Seele ist gleichsam das Prinzip der Lebewesen“ [7]. Alles Übrige soll dann die weitere Untersuchung erweisen.
Zwei Auffassungen schließt Aristoteles explizit aus: Weder ist die Seele als eine Art Seelensubstanz zu bestimmen, noch ist sie ein konkretes Einzelding, eine Entität, die dann auch in verschiedenen Körpern sich inkarnieren könnte. Deshalb freut sich z.B. auch nicht die Seele, sondern der ganze Mensch freut sich aufgrund der Seele [8]. Mit seiner Seele lebt der Mensch, nimmt er seine Welt wahr und denkt [9], aber das Subjekt des seelisch vermittelten Lebens ist der ganze Mensch mit Körper und Seele [10], auch wenn die Seele die für das Leben des Leibes entscheidende Größe ist [11]. Allein das oberste Denkvermögen, der ‚Geist‘ ist möglicherweise vom Körper getrennt denkbar. Doch sobald unser Denken mit Vorstellungen verbunden ist, ist auch dies nur verkörpert möglich. Gegen Platon, der wahre Erkenntnis der Seele als Erinnerung bestimmte, mit der wir uns an das von uns vor unserer körperlichen Existenz geschaute Reich der Ideen erinnern, betont Aristoteles ausdrücklich, dass eine vom Körper getrennte Vernunftseele nicht empfindungsfähig sei und sich auch an nichts erinnern könne.
Aristoteles unterscheidet drei wesentliche Stufen des Seelischen, die sich als vegetatives, sensibles und rationales Seelenvermögen unterscheiden lassen. Während die Pflanzen eine nur vegetative Seele haben, kommt Tieren auch ein sensitives Seelenvermögen zu, uns Menschen dann aber auch das Vernunftvermögen. Wichtig ist für Aristoteles, dass dies keine Seelenteile sind, sondern verschiedene Fähigkeiten, wobei das jeweils höhere Vermögen die unteren Vermögen voraussetzt [12].
Wichtig für die Formierung der frühmittelalterlichen Seelenlehre der westlichen Tradition wird Augustinus. Er steht unter neuplatonischem Einfluss und untersucht an einigen Stellen die Frage nach dem Ursprung der Seele. Gegen den Manichäismus hält er daran fest, dass die Seele geschaffen und nicht als Seelenfunken göttlicher Natur ist. Sie ist unkörperlich, unausgedehnt und unteilbar. Mit Augustinus hat sich dann auch das Konzept des Kreatianimus durchgesetzt, demzufolge die Seele von Gott in einem unmittelbaren Schöpfungsakt bei der Empfängnis aus dem Nichts geschaffen und nicht von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Diese Auffassung ist dann auch durch das römische Lehramt verpflichtend geworden [13]. Von besonderem Interesse aber ist für Augustinus die Erkenntnisfunktion der Seele in ihrer Gottes- und Selbsterkenntnis. Die richtige Sorge um die Seele besteht darin, sich von den sinnlichen Dingen abzukehren und sich mit der Vernunft Gott als dem Prinzip des Seins zuzuwenden. Eine berühmte Stelle aus De vera religione mag das verdeutlichen: „Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine Natur noch wandelbar findest, so schreite über dich selbst hinaus! Doch bedenke, dass, wenn du über dich hinausschreitest, die vernünftige Seele es ist, die über dich hinausschreitet. Dorthin also trachte, von wo der Lichtstrahl kommt, der deine Vernunft erleuchtet.“ [14]
Augustinus entwickelt eine, wie Charles Taylor dies genannt hat, radikal reflexive Haltung zu sich selbst [15] und kann damit als Vorbereiter des modernen Begriffs des Selbst und des Subjekts gelten. Gottesgewissheit und Selbstgewissheit finden darin ein Fundament, dass im seelischen Vorgang der Selbsterkenntnis Erkennender und Erkanntes eines sind. Indem ich auf mein Inneres, mein Seelenleben achte und mir meines Selbst bewusst werde, wird mir zugleich bewusst, dass es von etwas abhängig ist, das jenseits des eigenen Denkens und Empfindens liegt. Bei Augustinus ist also die Seele selbst zum Ort der Gottesbegegnung geworden, und sie ist unruhig, bis das Herz des Menschen Ruhe findet in Gott [16].
Für das Hochmittelalter wird dann Thomas von Aquins Interpretation des Aristoteles und seine Definition der Seele als Form des Körpers prägend, die einerseits geschaffen, als solche dann aber je individuell unsterblich ist – eine Position, die im Konzil von Vienne (1312) lehramtlich bestätigt wird [17]. Fast zeitgleich entdeckt die deutsche Mystik abseits der akademisch-philosophischen Gelehrsamkeit die menschliche Seele als den Ort der Einigung von Gott und Mensch und entwirft erstmals eine Vorstellung von so etwas wie einem unbewussten oder vorbewussten Seelengrund. Für Meister Eckhart hat allein Gott zum Wesen der Seele, zum Seelengrund, Zutritt: „Die Seele empfängt ihr Wesen unmittelbar von Gott; darum ist Gott der Seele näher als sie es selber ist; darum ist Gott in dem Grund der Seele mit aller seiner Gottheit“ [18]. Mit dieser Vorstellung von Abgrund der Seele stößt die Mystik eine Entwicklung an, die die christliche Frömmigkeit nachhaltig prägen sollte. Der Pietismus nimmt diese Sicht der Seele auf, aber auch die Romantik und die mit dem 18. Jahrhundert beginnende Psychologisierung des Seelischen mit der Einsicht in die Verborgenheit unbewusster Seelenvorgänge können daran anknüpfen.
Wir machen noch einen weiteren großen Sprung und betrachten einige Aspekte der Seelenauffassung von René Descartes, dessen Konzeption für die frühe Neuzeit wichtig ist. Er ist von der aristotelischen Auffassung der Seele als Form des Körpers weit entfernt und unterscheidet streng zwischen den denkenden Substanzen der menschlichen Seelen und der ausgedehnten Substanz von Körpern. Durch diesen Dualismus ist auch seine Erkenntnistheorie geprägt. Denn die denkende Substanz, die Seele, kann keine Erkenntnis von den außer ihr liegenden Gegenständen haben, es sei denn durch die Vermittlung der Ideen, die das Denken schon in sich vorfindet und die die Seele für die Wahrnehmung der Körperwelt empfänglich machen. Wenn ich etwas klar und deutlich erkenne, dann deshalb, weil mein Erkenntnisapparat mir Gewissheit darüber verschafft. Alle anderen Seelenfunktionen, die Aristoteles ihr noch zuschrieb, wie Wachstum, Bewegung und Sinnesorgane, gehören auf die Seite der der Seele äußerlich bleibenden Welt der ausgedehnten Dinge. Deshalb ist auch der denkende, vernünftige Geist nicht ein Teil der Seele, sondern die Seele selbst: „Ich denke, also bin ich.“ [19] Deshalb stellt Descartes auch eine neue Theorie der Leidenschaften auf. Der Ablösung der denkenden Seele von Welt und Leib entspricht ein instrumentelles Verhältnis der Seele zu den Leidenschaften: „die Weisheit ist vor allem in dem Punkt nützlich, daß sie lehrt, [der Leidenschaften] soweit Herr zu werden […] daß die Übel, die sie verursachen, sehr erträglich sind und man sogar etwas Freude aus allen zieht“ [20]. Als starke Seelen bezeichnet Descartes genau „diejenigen, deren Wille von Natur aus die Passionen am leichtesten besiegen […] kann“ [21].
Descartes’ Lehre von den eingeborenen Ideen lehnt der angelsächsische Empirismus ab. Bei der Geburt ähnelt der menschliche Geist einer leeren Tafel (tabula rasa). Begriffe und Prinzipien werden nach John Locke den Menschen durch ihre Sinneserfahrungen eingeprägt, und das menschliche Selbst ist nichts anderes als der gemeinsame Bezugspunkt der Ideen und Vorstellungen eines bestimmten Individuums. Immanuel Kant transformiert das in die Vorstellung der Seele als durch den inneren Sinn des Menschen hervorgebrachtes, in seinem Wesen aber unerkennbares Einheitsprinzip der Erfahrung und der Vorstellungen.
Doch diese Auflösung eines substantiellen Seelengedankens ist nur die eine Seite der Neuzeit. Wir müssen wenigstens ganz kurz noch auf eine andere Strömung hinweisen, die die Tradition Platons und Augustins wieder aufnimmt und eine Gegenströmung zu dem Verständnis der Seele als funktional zu analysierendem Erkenntnisapparat darstellt. Es ist die Vorstellung der Seele als Ort der Selbsterkundung und der Bindung durch persönliche Entscheidung, die durch die Psychologie des 19. Jahrhunderts in eine säkulare Variante überführt wird, die aber auch schon in der romantischen Idee des Selbstausdrucks, wie sie etwa bei Rousseau und im deutschen Sturm und Drang entsteht, und im modernen Entwicklungsroman ihren Ausdruck findet. Es geht im Grundsatz um die Auffassung, dass die Seele für so etwas wie unseren Charakter und nicht nur unser reales, sondern auch unser potentielles und ideales Selbst steht, das auszudrücken und zur Entfaltung zu bringen eine Lebensaufgabe jedes Menschen ist. „Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll. Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll“, so hat Friedrich Rückert gedichtet. Wir erfüllen unsere Natur, wir verwirklichen unser Selbst, wenn wir den Regungen in unserem inneren Seelenleben nachgehen, sie sprachlich und in unserem Handeln zum Ausdruck bringen und unserem Leben dadurch eine festumrissene Gestalt geben, so dass wir uns gemäß der uns je eigenen Originalität verwirklichen. Hier steht die Seele nicht primär für Denken, Erkenntnis und Vernunft, sondern für Affekt, Gefühl und Innerlichkeit. Poesie, bildende Kunst und Musik sind dabei nicht nur Ausdruck von gerade aktuellen Emotionen, sondern dienen zur Bildung des individuellen Selbst, einer, wie es etwa die Romantik nannte, schönen Seele: „Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf, und nie Gefahr läuft, mit den Entscheidungen desselben in Widerspruch zu stehen. Daher sind bey einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es“ [22]. Man versteht unsere heutige Kultur der authentischen Selbstverwirklichung mit all ihren Angeboten zur Seelenerkundung und Seelenkultur sowie ihrer Wertschätzung des individuellen expressiven Moments nicht, wenn man nicht auch diesen Aspekt des Seelenbegriffs zur Kenntnis nimmt, auch wenn seine Erscheinungsformen im Rahmen der heutigen Populärkultur ihn oft flach, ichbezogen und beliebig erscheinen lassen.
Eine kleine Phänomenologie des Seelischen
Fassen wir auf Grundlage des bisher Dargestellten einige wichtige Facetten der Rede von der Seele zusammen. Ich tue dies in vier Abschnitten, wobei der letzte davon auf den Seelenbegriff in theologischer Perspektive eingeht.
1. Das Problem der Körperlosigkeit der Seele
Die Rede von der Seele hat ihren Anhaltspunkt an alltagsweltlichen Intuitionen eines wesentlichen Unterschieds zwischen unbelebten Gegenständen und belebten Wesen. Diese Intuitionen finden ihren Anhalt an den Phänomenen des Atems, des Wachsens und Vergehens, der Ernährung, der Fortbewegung, des gezielten Handelns, des Denkens und des Bewusstseins. Erfahrungen der relativen Unabhängigkeit des Bewusstseins von körperlichen Vorgängen in Träumen, Gedankenreisen, Nahtoderlebnisse und andere Erfahrungen, die das Denken von der Körperwahrnehmung abzulösen scheinen, haben dann eine vom Körper getrennte Seele suggeriert. Hinzu kommt unser abstraktes Denken (z.B. Mathematik, Ethik und Ästhetik), das sich auf körperlose Gegenstände (Zahlen, Geraden, Dreiecke, das Gute, das Gerechte, das Schöne) bezieht. Diese scheinen ursprünglicher zu sein als unsere Sinneserfahrung, denn sie machen Erfahrung erst möglich. Aus ähnlichen Überlegungen hatte Descartes sein Argument für den Substanzdualismus von ausgedehnten Körpern und denkendem Geist gewonnen.
Doch das ist auch die Quelle für einen fundamentalen Irrtum: Ich kann den Körper zwar wegdenken, aber deshalb ist das Denken nicht selbst unkörperlich, denn unsere seelische Existenz ist immer verkörperte Existenz. Denken entsteht ja nur dadurch, dass es durch unser leibliches Dasein in dieser Welt etwas zu denken gibt. Etwas zu denken gibt es nur dadurch, dass Personen denken, die wahrnehmen und miteinander kommunizieren können. Dualistische Auffassungen einer substanzhaften Seele haben außerdem die prinzipielle Schwierigkeit, die Wechselwirkung zwischen zwei gerade als inkompatibel behaupteten Größen plausibel machen zu müssen. Der Begriff der Seele sollte also nicht im Sinne eines Dualismus dazu gebraucht werden, eine von der physischen Welt abgesonderte, selbständige Entität zu bezeichnen. Positiv gewendet: der Begriff der Seele steht primär für die organische Einheit von Lebewesen und Personen.
2. Die Transparenz seelischen Erlebens
Das Phänomen der Körperlosigkeit des Denkens taucht in veränderter Form aber auch in der Hirnforschung in dem Phänomen der sogenannten Transparenz des Bewusstseins wieder auf. Indem wir als leib-seelische Einheit existieren, nehmen wir unser Gehirn nicht als das Organ unseres Fühlens und Denkens wahr. Wir erleben unsere Welt und dabei uns selbst im Zusammenhang einer einheitlichen Erfahrungswelt und registrieren nicht nur eine Menge von Informationen, die uns die verschiedenen äußeren und inneren Sinne liefern. Wir erleben den konstruktiven und einheitsstiftenden Charakter unserer Wahrnehmung nicht mit. Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum Beispiel, mit denen unserer Sinne arbeiten, werden in unserer Wahrnehmung zu einem zeitlich einheitlichen Erleben integriert und in einen kohärenten Zeithorizont eingebaut, und in unserem Sehsinn wird selbst der blinde Fleck unseres Gesichtsfelds noch wegretuschiert.
Damit aber kommt ein weiterer wichtiger positiver Aspekt des Seelenbegriffs in den Blick. Er verweist auf die Personalität des Menschen als eine Kategorie, die sich einer vollständigen Naturalisierung dadurch widersetzt, dass sie nicht auf eine bloße Steuerungs- und Regelungsfunktion reduziert werden kann. Denn dazu hätte auch ein bewusstloser zentraler kybernetischer Apparat ausgereicht. Die Einheit von Wahrnehmung und Ich, das Entstehen von Personalität und biographischer Identität haben einen Wert an sich und sind nicht nur Mittel zum Zweck. Der Begriff der Seele steht dafür, dass unser mentales Innenleben weder auf eine zufällige Begleiterscheinung noch auf eine schlampig programmierte Informationsverarbeitung reduziert werden darf. Er hält die Ungleichgültigkeit alles Lebenden seiner eigenen Existenz gegenüber fest und verweist darauf, dass Lebewesen und Personen nicht nur Mittel zum Zweck, sondern um ihrer selbst willen da sind und ihnen nicht nur Wert, sondern Würde zukommt.
3. Die Privatheit der Seele
Die menschliche Seele steht darüber hinaus für die Einsicht, dass die eigentliche Erlebnisqualität eines Subjektes seine unverwechselbare Individualität begründet. Wir sind seelische Lebewesen, weil unser Lebensvollzug mit einer inneren subjektiven Erlebnisperspektive verbunden ist, auf die kein objektivierender Standpunkt eingenommen werden kann, ohne dass sie verschwindet. Es gibt keinen direkten empirischen Zugang zum Fremdpsychischen, es gibt einzig den Weg der Einfühlung, der Empathie. Im Falle von Artgenossen gelingt uns das einigermaßen gut, da wir analoge Vorgänge unterstellen und hier das Medium Sprache eine besondere Rolle spielt. Wir wissen aus unserer Selbsterfahrung, was Farben, Lachen, Denken, Angst und Trauern sind. Der Begriff der Seele steht deshalb auch für so etwas wie eine natürliche und ethisch zu respektierende Grenze des manipulierenden Zugriffs auf das subjektive Erleben von Menschen. Dem kommt heute besondere Bedeutung zu, weil wir mit Psychopharmaka und Drogen direkt Gehirnvorgänge manipulieren können, und sich unsere Kommunikation und Erlebniswelten durch die Digitalisierung sehr dynamisch verändern. Wo liegen die Grenzen von Selbst- und Fremdbestimmung? Wo liegen die Grenzen von Krankheit und Gesundheit im Bereich des Seelischen und wie können Therapien hier gelingen? Wie und unter welchen Bedingungen kann unsere Seele reifen, so dass sie ihren eigenen Charakter bildet? Der Begriff der Seele hält diese Fragen wach, denn er schließt die Frage nach der rechten Seel-Sorge, nach dem je individuellen guten Leben mit ein.
4. Theologische Bemerkungen zum Seelenbegriff
Der Seelenbegriff wird oft unmittelbar mit religiösen Vorstellungen in Zusammenhang gebracht, so dass er nach einer Aussage von Fritz Mauthner „allezeit sehr viele Reste der Religion und sonst veralteten ‚Wissens‘ mit sich führt, obwohl Seele in Wahrheit nur noch das Wort für eine ‚Funktion‘“ ist [23]. Und in der Tradition hat er ja für die Theologie eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Was allerdings die Gottesbeziehung angeht, muss es auch in ihr immer um den ganzen Menschen, um die Person mit Leib und Seele gehen. Der christliche Glaube ist ja kein Bewusstseinszustand, sondern eine Lebensform, also eine Art und Weise, ein Leben im Licht der Liebe Gottes zu führen. Zudem muss der theologische Begriff der Seele immer auch ein kontrafaktisches Element enthalten, denn die Liebe, mit der Gott uns als seinen Geschöpfen begegnet, bestätigt nicht einfach unsere faktische Existenz, sondern meint die auch gegen die Sünde des Menschen sich durchsetzende Verheißung von erfülltem und sich erfüllendem Leben. Der theologische Begriff der Seele mahnt uns daran festzuhalten, dass menschliches Leben nicht einfach mit Stoffwechsel und neurophysiologischer Funktionalität gegeben und mit ihnen identisch, sondern uns aufgegeben ist. Als von Gott anerkannte und angeredete Personen sind wir noch einmal von allen unseren Erlebnissen und Taten, von dem objektivierenden Blick von außen, ja selbst von der eigenen Introspektion, durch die wir uns selbst zu durchschauen trachten, unterschieden.
So markiert der theologische Seelenbegriff die Unterscheidung zwischen dem Rätsel der Bewusstseinserklärung und dem Geheimnis, das auch der von der naturwissenschaftlichen Forschung analysierte und erklärte Mensch bleibt. Ein Rätsel löst man, wenn man in es einzudringen vermag, und mit seiner Lösung verschwindet es. Man hat es zurückgeführt auf das Offensichtliche. Ein Geheimnis verliert seinen Geheimnischarakter nicht, wenn man sich mit ihm beschäftigt. Der Begriff der Seele erinnert uns daran, dass das Leben selbst, vor allem aber die menschliche Existenz nicht nur ein Rätsel ist, das erklärt zu werden verlangt, sondern auch ein Geheimnis bleibt, das geachtet werden soll, und es gerade darin auf seinen Schöpfer verweist.
Dirk Evers
Publiziert im Februar 2024
Eine etwas ausführlichere frühere Fassung dieses Textes finden Sie hier.
Dirk Evers studierte Theologie an den Universitäten Münster und Tübingen sowie in Madurai (Südindien). Es folgten Promotion (1999) und Habilitation (2005) an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Seit 2010 ist er Professor für Systematische Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er ist Mitglied der International Society of Science and Religion (ISSR) und war 2014-2022 Präsident von ESSSAT, der European Society for the Study of Science and Theology.
Anmerkungen
[1] Phai. 107 c ff.
[2] Vgl. Gorg. 493 a; Krat. 400 c.
[3] Phai. 64 c.
[4] Tim. 69ff., vgl. Pol. 439d–441a.
[5] Phai. 253c ff. Dort findet sich der bekannte Vergleich mit einem Gespann: die beiden niederen Seelenvermögen werden mit zwei Rossen verglichen, die durch den dritten Seelenteil als ihrem Führer gelenkt werden sollen.
[6] Vgl. Tim. 69c-e.
[7] De anima 402a, 6f. Zu Aristoteles’ Seelenlehre vgl. die schöne Darstellung bei H. Busche, Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche (Paradeigmata 25), 2001.
[8] De anima 408 b.
[9] De anima 414 a 12f.
[10] Met. 1049 a 29f.
[11] Vgl. Met. 1022 a 32.
[12] De anima 414 b 29f.
[13] Vgl. Denzinger-Hünermann Nr. 360; 685.
[14] Augustinus, De vera religione, XXXIX. 72, meine Hervorhebung.
[15] Ch. Taylor, Quellen des Selbst, 1996, 241.
[16] Vgl. Confessiones I,1.
[17] Denzinger-Hünermann Nr. 900 + 902.
[18] Meister Eckhart, Predigt 10, in: Deutsche Werke 1, 1958, 162, 4–5.
[19] R. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, hg. von A. Buchenau, 81992, 2f.
[20] R. Descartes, Die Passionen der Seele (PhB 663), 2014, 127 (Art. 212).
[21] AaO., 33 (Art. 48).
[22] F. Schiller, Ueber Anmuth und Würde (1793), Nationalausgabe Bd. 20, 287.
[23] Nach H. Holzhey, Art. Seele: IV. Neuzeit, Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. IX, Sp. 27.
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