Durchgeknallte Teilchenphysik?
Leitartikel von Ulrich Pontes
„Neues Rätsel um das Gottes-Teilchen“, „Hoffnung auf das Higgs“: In den vergangenen Wochen hat sie wieder einmal ein paar kleinere Schlagzeilen gemacht, die Teilchenphysik. An den Grenzen unseres Wissens über das, was die Welt im Innersten zusammenhält, geht es derzeit jedoch bestenfalls noch zäh voran. Alexander Unzicker, Autor des Buches „Vom Urknall zum Durchknall“, sieht die Physik deshalb in einer Sackgasse. Eine kritische Würdigung.
Es geht um jene Grundlagenforschung, die mittels gigantischer Beschleuniger wie dem Large Hadron Collider (LHC) in Genf der faszinierenden Frage nachgeht, woraus unsere Welt letztlich besteht und was sie zusammenhält: Was ist Materie? Woraus besteht sie, welche Kräfte wirken – und wie erklärt man sich das Wirken dieser Kräfte?
Dem gängigen physikalischen Weltbild zufolge wird die Welt von einer für Laien schwer zu überschauenden Vielzahl von Teilchen bevölkert. Die bekanntesten sind Protonen und Neutronen, die sich zu Atomkernen formieren, selbst aber wiederum aus Quarks bestehen. Dazu kommen das Elektron und ähnliche Teilchen, die als punktförmig und ohne innere Struktur gelten, zu allen Teilchen die sogenannten Antiteilchen und schließlich weitere Teilchen wie das Photon, die für die Wechselwirkungen zwischen den zuvor genannten Partikeln verantwortlich sein sollen.
Dieses sogenannte Standardmodell und seine experimentelle Erforschung gilt unter Physikern als Erfolgsgeschichte. Abgeschlossen und in Stein gemeißelt ist das Projekt aber mitnichten. Man muss in die Grundgleichungen zu viele unerklärliche Voraussetzungen hineinstecken. Warum hat beispielsweise die Elementarladung gerade den in der Natur vorfindlichen Wert und keinen anderen? Warum wirken die Grundkräfte nicht stärker oder schwächer, als sie es tatsächlich tun? Theoretischen Physikern sind solche freien Parameter in der Theorie, die nur experimentell bestimmt werden können, ein Dorn im Auge. Und umgekehrt fahnden die Experimentalphysiker bisher erfolglos nach einem Teilchen, das im Standardmodell eine zentrale Rolle spielt: eben dem Higgs-Boson.
Higgs bei einer Cocktailparty mit Margaret Thatcher
Bisher haben sich alle Hoffnungen etwa am LHC, erste Hinweise auf das Higgs entdeckt zu haben, kurz darauf wieder zerschlagen. Dabei kommt dem schon vor knapp 50 Jahren vorausgesagten, von der Presse mittlerweile zum „Gottes-Teilchen“ verklärten Higgs eine tragende Funktion innerhalb des Theorie-Gebäudes des Standardmodells zu. Es soll nämlich dafür zuständig sein, den anderen Teilchen ihre Massen zu verleihen.
Wie das vor sich geht, dafür hat ein englischer Physiker ein anschauliches Gleichnis geliefert: Man stelle sich eine politische Cocktailparty vor, bei der sich die Gäste halbwegs gleichmäßig im Raum verteilt haben. Ein unbekannter Mensch könnte nun relativ unbehelligt und schnell quer durch den Raum kommen. Taucht dagegen Margaret Thatcher auf, bildet sich sofort eine Menschentraube, die Thatcher bedrängt und in ihrer Bewegung bremst. Thatchers Prominenz entspricht somit einer großen Masse, die fluktuierende Menschentraube einer Wolke aus spontan auftauchenden und wieder verschwindenden Higgs-Teilchen.
Aber seit seiner Erfindung ist das Higgs eben noch nicht über den Status eines rein mathematischen Postulats hinausgekommen. Das zu ändern, ist erklärtes Ziel des LHC. Und aus allem, was man über das Standardmodell weiß, folgt: Wenn es das Higgs gibt, dann wird es vom LHC gefunden werden. Und es sah vor kurzem erst danach aus – allerdings mussten die LHC-Forscher in der zweiten Augusthälfte zurückrudern. Zuvor öffentlich gewordene, vermeintliche Higgs-Spuren lösten sich mit zunehmender Datenmenge und besserer statistischer Trennschärfe wieder in Wohlgefallen auf.
„Viel Lächerliches unter dem Namen Physik“
Einer, dem diese neuerliche Enttäuschung tatsächlich gefallen dürfte, ist Alexander Unzicker. In seinem Buch „Vom Urknall zum Durchknall. Die absurde Jagd nach der Weltformel“ beschreibt der Physiklehrer, warum die Grundlagenforschung von Kosmologie bis Teilchen- und Hochenergiephysik sich seiner Meinung nach komplett verrannt hat. Unzicker tut dies so grundsätzlich und polemisch-pointiert, wie es der Titel erwarten lässt. Gleich zu Beginn holt der Autor zur schallenden Ohrfeige aus: Es gebe „im Moment viel Lächerliches unter dem Namen Physik“. Während im frühen 20. Jahrhundert mit Relativitätstheorie und Quantenphysik Homo sapiens eine „große Leistung“ vollbracht habe, kranke die heutige Physik – jedenfalls die genannten, grundlegenden Disziplinen – „daran, dass sie sich von der naturwissenschaftlichen Methode löst“. Sie verliere sich in Science Fiction und verspiele ihre intellektuelle Autorität.
Das ist starker Tobak, der vielen ehrbaren Forschern die Zornesröte ins Gesicht treiben dürfte. Als Unzicker seine Thesen kürzlich in einem süffigen Vortrag beim interdisziplinären ESSSAT-Workshop in der Evangelischen Akademie in Bonn vorstellte, erntete er bei anwesenden Naturwissenschaftlern jedenfalls scharfen Widerspruch. Was – außer einem Selbstdarstellungsdrang nach dem Motto des schillernden Astronomen Fred Hoyle: „It is better to be interesting and wrong than boring and right“ – kann einen Physiker dazu bewegen, der eigenen Zunft dermaßen in den Rücken zu fallen?
In einer auch für Laien recht anschaulichen, mit wissenschaftshistorischen Anekdötchen gespickten Tour d’Horizon arbeitet Unzicker in Vortrag und Buch die groben Züge des heutigen physikalischen Weltbilds ab, um es Kapitel für Kapitel mit seinen an den allgemeinen Menschenverstand appellierenden und mit Zitaten großer Forscher unterfütterten Argumenten zu zerpflücken. Ein Bereich sind Kosmologie und Urknalltheorie. Hier beschreibt Unzicker etwa das grundlegende Problem, aus dem winzigen uns zugänglichen Teil auf die Gesamtheit des Universums zu schließen. Aus der Gültigkeit des Gravitationsgesetzes in unserem Sonnensystem auf das gesamte All zu verallgemeinern, entspreche dem Versuch, zwei um Haaresbreite entfernte Punkte zu nehmen und daraus eine Gerade bis New York oder noch viel weiter zu extrapolieren.
Aussagen über die ersten Sekundenbruchteile des Universums?
Dann hat Unzicker die Inflationshypothese im Visier. Diese erklärt eine ansonsten unverständliche Feinabstimmung bestimmter kosmologischer Parameter durch die Theorie, dass sich das Universum irgendwann in den ersten 10 hoch minus 30 Sekunden seiner Existenz extrem schnell ausdehnte, bevor die weitaus langsamere kosmische Expansion einsetzte, wie sie heute beobachtbar ist. Unzicker weist darauf hin, dass das früheste Ereignis in der Geschichte des Alls, bis zu dem wir in gewissem Sinne direkt zurückschauen können, etwa 380.000 Jahre nach dem Urknall stattfand. Damals kondensierten Atome aus dem vorherigen heißen Strahlungs-Teilchen-Gemisch. Das Universum wurde somit durchsichtig für die vorhandene elektromagnetische Strahlung, die seither durch Expansion und Abkühlung immer langwelliger wurde, heute aber immer noch als kosmische Hintergrundstrahlung im Mikrowellenbereich (entsprechend einer Temperatur des Alls von 3 Kelvin oder etwa -270 °C) messbar ist. Ereignisse der ersten 380.000 Jahre sind dagegen jeder unmittelbaren Beobachtung unzugänglich. Wissenschaftlich seriös darüber zu sprechen, was innerhalb der ersten Sekundenbruchteile nach dem Urknall geschah, ist Unzicker zufolge deshalb ausgeschlossen – ganz zu schweigen von den bei manchen Kosmologen und Medien beliebten Spekulationen, was „vor“ dem Urknall war.
Zum Thema Higgs-Teilchen erzählt Unzicker das oben erwähnte Cocktailparty-Gleichnis – um sodann schadenfroh aufzulisten, wie viele britische Premierminister seit Margaret Thatcher kamen und gingen, ohne dass die Experimentalphysiker das Higgs zu fassen bekommen hätten. Unzicker selbst glaubt nicht an das Higgs und wettet sogar online auf die Nicht-Entdeckung (www.bet-on-the-higgs.com).
Aber auch das Standardmodell an sich hat er auf dem Kieker. Aus ursprünglich erfolgreichen Ansätzen wie etwa der Quantenelektrodynamik sei seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ein undurchdringliches Dickicht aus Teilchen, halbgaren mathematischen Beschreibungen und viel zu vielen willkürlich gewählten Parametern gewuchert. Ganz zu schweigen von dem Wildwuchs bei weitergehenden, die Gravitation einbeziehenden Theorien, namentlich den Stringtheorien. Und natürlich bekommt der LHC sein Fett weg: Letztlich sei das internationale, Milliarden Euro teure Projekt ein Spielzeug für Physiker.
Epizyklen als Leitmotiv des Kritikers
Dabei richtet Unzicker seine Kritik nicht nur gegen überzogene Popularisierungsversuche, die nicht nur das Higgs- zum Gottesteilchen mutieren lassen, sondern etwa den LHC auch zur „Urknallmaschine“ machen und in der Hintergrundstrahlung das „Antlitz Gottes“ sehen. Gegen den Ruf zu mehr verbaler Demut hätte wohl auch kaum ein ernsthafter Naturwissenschaftler Einwände. Aber Unzicker zielt tiefer und attackiert explizit nicht nur die Außendarstellung, sondern die Substanz der Theorien.
Den Kamm, über den er die diversen vermeintlichen Theorie-Verirrungen scheren kann, findet Unzicker im ptolemäischen Weltbild. Als die immer präziseren Himmels-Beobachtungen nicht mehr zur aristotelischen Lehre passen wollten, derzufolge sich die Himmelskörper auf perfekten Kreisbahnen um die Erde bewegen, führte Ptolemäus „Epizyklen“ ein – zusätzliche kleine Kreise, welche die großen Kreisbahnen überlagerten und so die Abweichungen erklären sollten. Die Epizykeltheorie erwies sich als kaum widerlegbar: Neue Beobachtungen konnten durch immer neue Epizykel aufgefangen werden. Eleganz der Erklärung und Vorhersagekraft blieben freilich auf der Strecke, so dass König Alfons X. von Kastilien im 13. Jahrhundert sagte: „Hätte mich der Herrgott bei der Schöpfung um Rat gefragt, hätte ich etwas Einfacheres empfohlen.“
Dieses Zitat scheint das Unbehagen Unzickers angesichts der Grundlagenphysik des frühen 21. Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen. Ob willkürliche Parameter im Standardmodell, kosmologische Hypothesen wie die Inflation oder Theorien, die zur Erweiterung des Standardmodells bereitstehen, falls das Higgs nicht gefunden werden sollte: Das alles erinnert Unzicker an die hilf- und fruchtlosen Versuche, per Epizyklen das auf Aristoteles gegründete Weltbild zu bewahren.
Berechtigte Kritik
Tatsächlich lassen sich viele von Unzickers Kritikpunkten nicht einfach beiseite wischen. Sein Abriss der Physik ist kundig, seine Ablehnung bestimmter Aspekte erwächst nicht aus allgemeiner Wissenschaftsskepsis (der er aber Munition liefert), sondern vielmehr aus seiner Leidenschaft für Physik. Die willkürlichen Konstanten im Standardmodell gelten in der Physik allgemein als Problem, und ebenso unbestreitbar ist, dass viele neuere theoretische Entwicklungen bislang nur Dinge fernab der empirisch zugänglichen Realität beschreiben – beispielsweise Prozesse bei Energien, die jenseits aller praktisch durchführbaren Experimente liegen. Solche Theorien sind also bis auf Weiteres nicht durch Experimente zu falsifizieren. Sie gehören, hält man sich streng an Karl Poppers Abgrenzungskriterium, nicht mehr in den Bereich der (empirischen) Wissenschaft.
Abgesehen von Unzickers polemischem und teilweise etwas selbstgefälligen Ton, über den man sich ärgern oder amüsieren mag, ist soweit nur seine holzschnittartige Darstellungsweise zu kritisieren. Sie macht sein Buch gut lesbar und auch für Laien eingängig, aber macht es sich in ihrer vergröbernden, fast ausschließlich destruktiven Betrachtungsweise eben mitunter auch zu einfach.
Natürlich darf Unzicker ob der vielen freien Parameter im Standardmodell tiefes Unbehagen empfinden. Nur rennt er damit bei den gescholtenen Physikern offene Türen ein – aus eben diesem Grund versuchen Heerscharen von Theoretikern seit langem und mit aller Macht, Wege in neues Terrain jenseits der Physik des Standardmodells zu bahnen (unabhängig davon, ob das Higgs nun gefunden wird). Welcher Physiker träumte nicht von einer eleganten, von willkürlichen Parametern freien und trotzdem die messbare Realität erklärenden Theorie!
Unzicker scheint allerdings weniger darauf zu hoffen, dass eines Tages das Standardmodell durch eine umfassendere Theorie erklärt wird – vielmehr zieht er das Standardmodell samt und sonders in Zweifel, wenn er schreibt: „es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder die Natur ist hässlich und hoffnungslos kompliziert, oder die Theoretische Physik der letzten siebzig Jahre baut auf falschen Konzepten.“ Möglichkeit Nummer zwei scheint für den normalen gesunden Menschenverstand eine schöne Hoffnung zu beinhalten – widerspricht aber dem gesunden Physikerverstand.
Realismus vs. unrealistische Hoffnungen
Dies wird etwa aus den Schriften John Polkinghornes deutlich, der als theoretischer Physiker Zeitzeuge und Beteiligter bei der Entstehung des Standardmodells war und als späterer Naturwissenschaftler-Theologe auch wissenschaftsphilosophisch kompetent ist. Polkinghorne betont immer wieder, dass Physiker im ontologischen Sinne Realisten sind. Als Beispiel nennt er in seinem Buch „Rochester Roundabout – The Story of High Energy Physics“: Wenn sie herausfinden, dass Protonen und Neutronen aus Quarks und Gluonen bestehen, bedeute das für Physiker eben nicht nur, dass Quarks und Gluonen hilfreiche Denkfiguren seien. Sondern sie gingen davon aus, dass es diese Quarks und Gluonen tatsächlich gebe.
Polkinghorne spricht von der „störrischen Faktizität der Natur“: Entsprächen den Begriffen keine konkreten physikalischen Realitäten, wie könnte die physikalisch-theoretische Beschreibung immer wieder zutreffende Vorhersagen über die empirische Wirklichkeit liefern? So sei für Physiker auch die Entstehung des Standardmodells „die Geschichte eines zunehmend genauen Verständnisses einer tatsächlichen Wirklichkeit“. Zu hoffen, dass das Standardmodell durch komplett andere Konzepte abgelöst werden könnte, macht nach dieser Auffassung keinen Sinn – es würde bedeuten, dass die Welt selbst gegen eine andere ausgetauscht werden müsste.
Besser zu Unzickers Hoffnung passende philosophische Positionen wie Thomas Kuhns Auffassung von wissenschaftlichen „Revolutionen“, bei denen ein herrschendes wissenschaftliches Weltbild durch eine inkommensurable, völlig neue Betrachtungsweise abgelöst wird, widerlegt Polkinghorne anhand neuerer historischer Beispiele. So sei zumindest innerhalb der modernen Wissenschaft – in Übereinstimmung mit dem, was der Realismus erwarten lässt – immer eine gewisse Kontinuität gegeben; eine neue Theorie müsse etwa die experimentell bestätigten Vorhersagen der alten Theorie reproduzieren können.
Die Grenzen der Empirie
Weniger problematisch als sein Zweifel am Standardmodell ist Unzickers Skepsis gegenüber Theorien, die keine messbaren Vorhersagen liefern. Damit reiht er sich freilich in eine Reihe von Kritikern ein – siehe etwa das auch von ihm zitierte Buch „Die Zukunft der Physik: Probleme der String-Theorie und wie es weitergeht“ des renommierten theoretischen Physikers Lee Smolin. Anders als dieser beschränkt sich Unzicker allerdings weitgehend auf die Rolle des Spielverderbers. Konkrete Alternativen entwickelt er nicht.
Zudem geht Unzicker zu leichtfertig darüber hinweg, dass sich die Wissenschaftsphilosophie seit Poppers Falsifikationismus und Kuhns Revolutionen weiterentwickelt hat. Polkinghorne weiß an Popper etwa zu kritisieren, dass dieser zu einseitig auf formal-logische Argumente setzt. An der wahren Wissenschaft sei neben dem Kopf auch das Herz beteiligt, schreibt Polkinghorne. Nicht nur kalte Logik, auch „tacit skills“, also informelles, nicht-explizites Wissen und entsprechende Fertigkeiten, kommen zum Einsatz. Vor diesem Hintergrund erscheint es vorschnell, wenn Unzicker die Stringtheorie oder die Überlegungen der Kosmologen zum ganz jungen Universum als unwissenschaftlich abtun möchte. Worauf Unzicker dabei abzielt, wird nicht ganz klar. Will er erkenntnisgerichtete Forschung jenseits des empirisch Zugänglichen gegen angewandte Wissenschaft ausspielen? Wenn er etwa zu Beginn seines Vortrags oder auch am Anfang seines Buches diverse drängende Menschheitsprobleme erwähnt, könnte man diesen Eindruck gewinnen. Dass das Streben nach Erkenntnis über die Welt ein legitimes Projekt ist und wohl untrennbar zum Menschen gehört, bestreitet er andererseits nicht.
Polkinghorne hat zu diesem Erkenntnisprojekt noch die interessante Anmerkung, dass es doch eigentlich höchst wundersam sei, als wie zugänglich sich die Welt für unseren forschenden Verstand bisher erwiesen hat. Die Frage nach einer Erklärung für diese Zugänglichkeit weist für Polkinghorne unweigerlich in die Theologie. Wenn aber Gott eine rational strukturierte Welt geschaffen hat und wir in unserem rationalen Erkenntnisprozess somit in gewissem Sinne auch an Gottes Wesen teilhaben, dann liefert das Grund zu der Hoffnung, dass ein Forschen auch jenseits der (bislang) empirisch zugänglichen Bereiche nicht unfruchtbar sein wird.
Die Schere zwischen Aufwand und Ertrag
Wichtig bleibt indessen Unzickers Hinweis auf die soziologischen und psychologischen Prozesse, die im Wissenschaftsbetrieb wirksam sind und derzeit möglicherweise die Stringtheorie zu einem selbsterhaltenden, zunehmend abgekapselten und kritikresistenten System machen. Auch Polkinghorne – 1989 noch ohne das konkrete Beispiel Stringtheorie vor Augen – gesteht die grundsätzlichen Gefährdungen ein, denen Wissenschaft als soziale Aktivität unterliegt: „Man muss anerkennen, dass soziale Einflüsse eine Rolle in wissenschaftlicher Forschung spielen – sowohl indem sie beeinflussen, was als bedeutsam und experimenteller Bemühungen würdig gilt, als auch indem sie eine Erwartungshaltung erzeugen, mit welchen Entdeckungen zu rechnen ist.“
Was folgt aus alledem? Wer Unzickers Unbehagen am Zustand der Grundlagenphysik einfach abtut, weil seine Kritik gar zu aufgeregt und undifferenziert, seine Attacke auf die Säulen des physikalischen Weltbilds gar zu quichottesk wirkt, der macht es sich seinerseits zu einfach. Denn allem Aufwand zum Trotz ist der Erkenntnisfortschritt in den bewussten Disziplinen doch äußerst zäh geworden. Hier eine Krise zu diagnostizieren ist keine Schlechtmacherei. Und es ist durchaus angemessen, die Allgemeinheit – also den Finanzier der Grundlagenforschung – auf eine sich zunehmend öffnende Schere zwischen Aufwand und Ertrag hinzuweisen. Dass zweckfreies Erkenntnisstreben berechtigtes Bedürfnis des Menschen ist, steht außer Frage. Wie viel von unseren begrenzten Ressourcen wir dafür aufwenden wollen, ist dagegen eine Frage, die immer wieder gestellt werden muss.
Ein Appell zur Besinnung
Am Ende fordert Unzicker, neben gesteigerter Skepsis, den Prozess der Interpretation der Messergebnisse neu aufzurollen: „Mehr denn je ist es daher notwendig, dass wir zu den Rohdaten zurückkehren, jeden Bearbeitungsschritt transparent machen und fragen: Ist das die beste, einfachste, und einzige Erklärung?“ Für den einzelnen Forscher mag dies eine gute Maxime sein – für die Wissenschaft oder auch nur eine spezielle physikalische Disziplin als Ganzes ist es eine hoffnungslos romantische Vorstellung, dass ein „Zurück auf Start“ machbar wäre.
Wünschenswert und nicht gänzlich unrealistisch ist es dagegen, dass die betroffenen Disziplinen sich der Situation bewusst werden und bewusst innehalten, statt unverdrossen weiterzuwursteln. Zurück- und aus dem Lauf der Alltags-Automatismen heraustreten, die konkreten Probleme vorübergehend loslassen, um eine frische Perspektive zu gewinnen: Dass Besinnung nicht nur auf individueller Ebene ein probates Mittel gegen Krisen sein kann, hat kürzlich das deutsche Atomkraft-Moratorium gezeigt.
Natürlich gibt es kein Physik-Ministerium, das eine Denkpause vorschreiben könnte. Aber wieso verbünden sich nicht eine Handvoll prominenter Forscher und rufen für die Grundlagenphysik eine begrenzte Zeit – vielleicht ein Semester – der Neubesinnung aus? Nötig wäre noch nicht einmal Geld, lediglich eine Akzentverschiebung im üblichen Betrieb: Fachorgane könnten den Fokus auf Forschungsmethodik und -logik legen oder gezielt exotischere physikalische Ideen vorstellen, um den Blick ihrer Leser zu weiten. Zu Kolloquien und Konferenzen könnten statt Vertretern der eigenen Disziplin Redner etwa aus Wissenschaftsphilosophie und -soziologie eingeladen werden. Das Forschungszentrum CERN, das den LHC betreibt, könnte statt nach dem Gottesteilchen zeitweise den Dialog mit Religionsvertretern suchen.
Ginge ein derartiger Ruck durch zentrale Institutionen der Physik, würde die Öffentlichkeit über die Medien automatisch mit hineingenommen. Und auch individuelle Forscher dürften motiviert werden, ihre Projekte zugunsten interdisziplinärer Kontakte ruhen zu lassen und jenseits der üblichen Forschung mal über die Grundlagen ihres Tuns und die Möglichkeit ganz neuer Herangehensweisen nachzudenken. Dass am Ende einer solchen Besinnungsphase ein neues Standardmodell steht oder die Grundlagenforschung wegen zu hohen Ressourcenverbrauchs sich selbst beschränkt, ist natürlich nicht zu erwarten. Aber schon wenn die eine oder andere vielversprechende Idee aus der Nische ins Zentrum geholt wird, die selbstkritische Reflexion über Ziele und Grenzen der Forschung neuen Atem eingehaucht bekommt und die Öffentlichkeit ein bisschen besser versteht, wozu Abermillionen Euro in die Grundlagenforschung fließen, hat der Ertrag einer solchen Initiative die Kosten bei weitem übertroffen.
Ulrich Pontes
Veröffentlicht im August 2011
Ulrich Pontes hat in Heidelberg und Santiago de Chile Physik und Philosophie studiert und anschließend die Deutsche Journalistenschule in München besucht. Nach Tätigkeiten als öffentlichkeitsreferent der SMD und als Nachrichtenredakteur beim ZDF ist er seit 2010 selbstständiger Wissenschaftsjournalist für verschiedene Online- und Printmedien. Thematisch interessiert ihn besonders, wie Wissenschaft und Technik mit unserem Menschen- und Weltbild interagieren. www.ulrich-pontes.de
Zum Weiterlesen
Unzicker, Alexander: Vom Urknall zum Durchknall. Die absurde Jagd nach der Weltformel, Springer: Heidelberg 2010
„Manche Theorien sind durchgeknallt“, Interview mit Alexander Unzicker
Polkinghorne, John: Rochester Roundabout. The Story of High Energy Physics, Longman: Harlow 1989
Smolin, Lee: Die Zukunft der Physik. Probleme der String-Theorie und wie es weitergeht, DVA 2009
Offizielle Informationen über den LHC: http://weltmaschine.de
Bildnachweis
"Time Line of the Universe", Wikimedia Commons, Credit: NASA/WMAP Science Team
"Simulation des hypothetischen Zerfalls eines Higgs-Teilchens in Teilchen-Jets am CMS/CERN", Wikimedia Commons, Lucas Taylor
"Vom Urknall zum Durchknall", Cover des Buches von Andreas Unzicker
"Atlas Cavern, Installation of Muon Chambers", Credit: CERN-EX-0907238 07
"Rochester Roundabout", Cover des Buches von John Polkinghorne
Einblick in den kilometerlangen ringförmigen Tunnel, in dem zwei Teilchenstrahlen gegenläufig beschleunigt werden, bevor sie zur Kollision gebracht werden, Credit: CERN 1107167 02
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Ihre Meinung zum Thema des Leitartikels
Würde ein Forschungsmoratorium, wie vom Verfasser des Leitartikels vorgeschlagen, Sinn machen? Sollten Wissenschaftsphilosophie und -soziologie ins Gespräch eingeladen werden? Sollte das Forschungszentrum CERN, das den LHC betreibt, statt nach dem Gottesteilchen zeitweise gar den Dialog mit Religionsvertretern suchen? Wir sind gespannt auf Ihre Meinung zu diesen Fragen und zum Thema des Leitartikels überhaupt.
Kommentare (1)-
Antworten
Um die Diskussion mal ein wenig anzuregen: die aktuellen Messergebnisse der Neutrinos, die schneller als das Licht zu sein scheinen, könnten die Physik revolutionieren - oder es handelt sich um irgendeine Art von Meßfehler. Wie diese Diskussion weitergeht, wird wohl auch über Unzickers These, die Teilchenphysik sei in einer Sackgasse entscheiden. Ironischerweise wäre es dann allerdings der für Unzicker noch untadelige Einstein, der sich geirrt hätte.
Andreas Losch
am 29.09.2011