Zeit zum Umdenken? Unsere gegenwärtige Verantwortung für die Umwelt

Leitartikel von Günter Altner

1969 fand in der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr die erste große kirchliche Umwelttagung zum Thema „Dürfen im Rhein Fische schwimmen“ statt. Es ging um die Rolle der chemischen Industrie, die damals Umweltschutz und insbesondere Gewässerschutz als Nebensächlichkeit praktizierte. Inzwischen war in Wyhl der Streit um die Kernenergie ausgebrochen. Dazu heißt es in einer öffentlichen Verlautbarung der Bischöfe von Baden-Württemberg (1977): „Wir sind mit der Landesregierung im Gespräch über Sicherheitsfragen der Kernenergie… Es ist auch nicht wahr, daß ohne Kernenergie zwangsläufig die Lichter ausgehen.“ Schon damals ging es um den Ausstieg.

Zwei Notizen aus einer jahrzehntelangen vielschrittigen Streitgeschichte, an deren Ende einerseits erstaunliche Ergebnisse zu verzeichnen sind: Luft, Boden, Wasser wurden im Zuge der Umweltpolitikentwicklung wesentlich entlastet. Andererseits besteht das Desaster der Kernenergie, wie die Katastrophe von Fukushima schlagend zeigt, unverändert fort, national wie international. Aber es wurden alternative Energien und Effizienzstrategien entwickelt, die in eine andere Zukunft weisen.


Nachhaltigkeit als Spiritualität

In der Kontur der zurückliegenden 40 Jahre haben sich Frömmigkeitspraxis und sozialethisches Engagement der christlichen Gemeinden fundamental geändert und global ausgeweitet: Gerechtigkeit ist heute eine Frage der internationalen Gerechtigkeit im Sinne des Ausgleichs zwischen Wohlstands- und Entwicklungsländern. Schöpfungsfrömmigkeit ist global orientierte Ehrfurcht vor dem Leben im Wissen um die zerbrechliche Einmaligkeit des irdischen Schöpfungsprozesses insgesamt. Nachhaltigkeit im kirchlichen Verständnis ist Spiritualität, die sich in der Daseinsvorsorge für die kommenden Generationen auch die Wohlfahrt der Schöpfung angelegen sein lässt.

Im „Manifest zur Versöhnung mit der Natur“ (Neukirchener Verlag) heißt es schon 1984 im Blick auf die Christen: „Wer sind wir? Wir sind Teil der Schöpfung Gottes, berufen dazu, auch unter den Bedingungen der Gewalt und Ern gemeinsamen Leiden mit der Schöpfung Ebenbild Gottes zu sein und Zeichen der Befreiung in der ganzen Schöpfung zu setzen.“ Zeichen der Befreiung, wie sähen sie aus in einer Zeit, in der in hohen Tönen von Nachhaltigkeit Schwadroniert, aber gleichzeitig das Wachstums des Bruttosozialprodukts als ausschließlicher Maßstab hochgehalten wird?


Prioritäten in der Nachhaltigkeitsdebatte

Welche Prioritäten müssten die Christen und ihre Kirchen in der doppelbödigen Nachhaltigkeitsdebatte setzen?

1. Es bedarf stärker denn je des interreligiösen und interkulturellen Austauschs, um die mit den religiösen Traditionen verbundene Schöpfungsweisheit gesellschaftlich ins Spiel zu bringen und als Störfaktor gegenüber den technokratischen Ausbeutungsstrategien zu positionieren.

2. Nach dem weitgehenden Absterben der Naturphilosophie beinhaltet das religiöse Schöpfungswissen die einzige Wertgarantie zugunsten der nichtmenschlichen Natur. Von Gott gegeben, nicht nur um des Menschen, sondern um ihrer selbst willen. Dies gilt es, gegenüber allen anthropozentrischen Tendenzen anzumahnen.

3. Nachdem über die tragende Bedeutung regenerativer Energien und entsprechender Effizienzstrategien weitgehend Einigkeit der Gesellschaft besteht, sollten die Kirchen die Lebensstilfrage (Suffizienzfaktor) hartnäckiger als bisher ins Spiel bringen. Es geht aber nicht nur um individuelles Vorleben. Die Gesellschaft als ganze wird sich nur dann umorientieren" wenn ihr eine kluge Anreizpolitik "Beine macht". Hier ist Einmischung vonseiten der Kirchen nötig.

4. Schließlich muss das Paradigma exakter Kausalforschung im Sinne effizienter Berechnung und Ausbeutung der Natur durch interdisziplinäres Netzwerkdenken ergänzt und modifiziert wenden. Wir brauchen offene diskursive Universitäten, die in ökosozialen Kontexten denken und arbeiten. Daraus werden ganz neue Produkte für den Export hervorgehen! Auf jeden Fall gewinnt das Gespräch zwischen Kirchen und Wissenschaften an Bedeutung.

5. Im Gespräch zwischen Kirche. Wissenschaft und Gesellschaft wird es um die Frage nach einer fundamentalen Alternative (Konversion) gehen, im der Technik und Produktion der natürlichen Dynamik kooperativ zu- und unterzuordnen sind. Nicht ausbeuten und manipulieren heißt die Alternative, sondern Offenheit, Beweglichkeit und Empathie. Im Horizont evolutionärer Prozesse zeigt sich das Geheimnis der Schöpfung und will als solches gepflegt und verehrt (colere) sein.

6. Die Volksparteien und die Volkskirchen sind in Deutschland einem ganz offensichtlichen Veränderungs- und Schrumpfungsprozess ausgesetzt. Gleichzeitig nimmt das Phänomen nichtorganisierter Ethik und Religiosität zu. Viele der ökologischen und friedenspolitischen Initiativen verdanken sich diesem Umbruch. Das eingangs beschworene interreligiöse Gespräch muss auch diese Formen einer säkularen Religiosität miteinschließen. Die Unverwechselbarkeit des christlichen Schöpfungsbekenntnisses lebt im Diskurs mit allen Formen einer praktisch gelebten Ehrfurcht vor dem Leben.

7. Der Ausstieg aus der Atomenergienutzung (national wie international) hat im Kontext der skizzierten Wende eine fundamentale Bedeutung. Die Fortsetzung des atomtechnischen Ausbaus führt in die Selbstzerstörung und pervertiert die dem Menschen verliehene Fähigkeit zur Verantwortung  für die Schöpfung. Ein internationales vielschrittiges Ausstiegskonzept ist unumgänglich. Die Kirchen sind zur Mitwirkung aufgerufen.

Günter Altner

Veröffentlicht im April 2011

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Biographisches zum Autor:

  • Geboren 1936
  • Studium der der Evangelischen Theologie an den Universitäten Wuppertal und Göttingen (1956-1962)
  • Promotion zum Dr. theol. (1964)
  • Studium der der Biologie an den Universitäten Mainz und Gießen (1962-1968)
  • Promotion zum Dr. rer. nat. (1968)
  • Studienleiter für Grenzfragen im Bereich Theologie - Naturwissenschaften an der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr (1968-1971)
  • Professor für Humanbiologie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd (1971-1973)
  • Wissenschaftlicher Referent an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (1973-1977)
  • Mitbegründung des Öko-Instituts in Freiburg (1977)
  • Professor für Evangelische Theologie mit Schwerpunkt Systematische Theologie/Sozialethik an der Universität Koblenz-Landau (1977-1999)
  • Dr. hc der Umweltwissenschaften an der Universität Lüneburg (2000)
  • Wissenschaftlicher Beirat des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft

Zum Leitartikel "Zeit zum Umdenken? Unsere gegenwärtige Verantwortung für die Umwelt" von Günter Altner

Ist es Zeit, zu handeln? Diskutieren Sie mit!

In seinem Leitartikel zum Thema Schöpfungsverantwortung argumentiert unser Gastautor Günter Altner, dass Christen und ihre Kirchen sieben entscheidende Prioritäten in der doppelbödigen Nachhaltigkeitsdebatte setzen müssten. Stimmen Sie mit diesen Prioritäten, zum Beispiel dem Ausstieg aus der Kernenergie, überein? Hier ist Raum für ihre Meinung, für Kommentare, Kritik und Anregungen zum Artikel.

Kommentare (2)

  • Wolf Häfele
    Wolf Häfele
    am 23.05.2011
    DIE VOLLE WIRKLICHKEIT UMFASST VIELES
    eine Entgegnung an Günter Altner mit seinem Artikel "Zeit zum Umdenken? Unsere gegenwärtige Verantwortung für die Umwelt"

    Je für sich genommen nehmen die Thesen Altners zur Nachhaltigkeit als Spiritualität den leser zunächst einmal ein. Spontan möchte man zustimmen. Ja, solche Spiritualität muss immer dabei sein.

    Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die Totalität dieses Ansatzes in Zweifel gezogen werden muss. Die volle Wirklichkeit nämlich hat und hatte immer schon erschreckende, schmerzhafte Züge. Immer ging es auch um Armut und Elend. In unserer (westlichen) Welt haben Industrialisierung und Technik bewirkt, dass Armut und Elend ein Stück weit zurückgedrängt werden konnten. Und man halte sich vor Augen: Nach dem zweiten Weltkrieg betrug die Weltbevölkerung etwa 2,5 Milliarden Menschen, in den siebziger Jahren waren es etwa 4 Milliarden und heute sind es etwa 6 Milliarden. Für die Jahrhundertmitte sind etwa 8 Milliarden zu erwarten. Das ist zutiefst erschreckend. Die natürliche Natur kann so viele Menschen nicht tragen. Es bedarf der zivilisatorischen Kraft der Menschen, eine solche Anzahl erträglich zu gestalten. Die schon heute entstehenden Nöte der Globalisierung und kontinentweiten Migration gehören zur vollen und erschreckenden Wirklichkeit in der wir leben.

    Zu dieser zivilisatorischen Kraft gehören unter anderem eine gesunde Wirtschaft und Technik mit der Bereitstellung von Energie einschließlich der Kernenergie mit allen Begleiterscheinungen und Anstrengungen. Erneuerbare Energien allein können das nicht leisten. Dabei würde die Landschaft, die Natur, ruiniert. Da zeigt sich nicht bei der Nutzung im kleinen Stil, wohl aber bei der radikalen Nutzung in großem Umfang. Z.B. im achtzehnten Jahrhundert waren unsere Wälder abgeholzt, weil Holz als Energiequelle benötigt wurde. Erst als Kohle diese radikale Nutzung von Holz ersetzte, konnte es dann wieder unsere Wälder geben.

    In Sachen Kernenergie und Fukushima tritt jetzt häufig der Umstand in den Hintergrund, dass der Tsunami der Auslöser war. 14 m hohe Wellen überspülten 6 m hohe Schutzwälle: "Wie sicher ist sicher genug?", worauf haben wir uns einzurichten?

    Das ändert nichts daran, dass die Verletzbarkeit der Kernenergie neu bewertet und verbessert werden muss mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Gleichermaßen ist ein überlegter Vergleich der infrastrukturellen Auswirkungen von Erneuerbarer und Kernenergie anzustellen. Die volle Wirklichkeit ist zu bedenken. Und es muss solch Vergleich den Einsatz im großen Stil zum Gegenstand haben, "small" ist immer gut und "beautiful", aber täuscht meistens.
    Jedenfalls ist ein besonnenes Vorgehen ohne Totalitäten gefragt. Aber das ist nicht von jetzt auf nachher zu haben.

    Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Häfele

    Biografisches

    1927 geboren
    1946-1950 Studium der Physik in München
    1950-1953 Entwicklungsingenieur, Siemens
    1953-1955 Promotion zum Dr. rer. nat. Göttingen
    1955-1973 Kernforschungszentrum Karlsruhe Leiter Projekt Schneller Brüter
    1973-1980 Internationales Institut für Angewandte Systemanalyse Wien. Leiter Projekt Energiesysteme
    1974 Stellvertretender Direktor
    1981-1989 Vorstandsvorsitzender Forschungszentrum Jülich
    1991-1996 Wissenschaftlicher Direktor Forschungszentrum Rossendorf/Dresden

    - Honorarprofessor 1964 TU Karlsruhe, 1976 TU Wien
    - Auswärtiges Mitglied der Akademie für Ingenieurwissenschaften 1975 Stockholm, 1977 Washington, 1989 Helsinki, der Akademie der Wissenschaften 1988 Moskau
    - Dr. h.c. Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der TU Dresden 1995
    - Prof. h.c. Sachsen 1999

  • Jochen Luhmann
    Jochen Luhmann
    am 10.06.2011
    Das wirkliche Verständnis von „schnellstmöglich“
    beim Atomausstieg im zweiten Anlauf

    Ich stimme Günter Altner in der folgenden Pointierung zu: Das entscheidende Handeln ist die Präparierung der Wahrnehmung; oder der Verzicht darauf. Jedenfalls die Wahrnehmung. Das nimmt Druck aus der Fokussierung auf das Handeln i.e.S.
    Worte sind mächtig. Für sie gilt das Gleichnis von David und Goliath. Große Worte helfen wenig. Kleine Worte können viel austragen. Zudem gilt: Worte können beschreibend oder fordernd verwendet werden. Auch da gilt das Gesetz von David und Goliath: Forderung ist eher machtlos. Beschreibung kann sehr machtvoll sein. Wenn sie präzise und wahrhaftig ist. Maßstab ist, was „ist“, die „Realität“. Nicht im Sinne des Positivismus. Vielmehr in dem Sinne, wie es von Michael Voslensky und Adam Michnik erneut ans Licht gebracht worden ist: Sie haben den „real existierenden Sozialismus“ anscheinend lediglich beschrieben und haben damit, mit dieser neugeschaffenen Wahrnehmung entscheidend dazu beigetragen, die Transformation von Mittel- und Osteuropa auszulösen.
    Das ist ein ermutigendes Modell. Auch für uns, in unserer Gesellschaft, an deren Entwicklungstendenzen wir schier zu verzweifeln geneigt sein können, muss es eine vergleichbare „Realität“ geben. Eine, die wir bislang nicht sehen; die aber, wenn es uns gelingt, sie überzeugend in dem Sinne zu beschreiben, dass es uns wie Schuppen von den Augen fällt, vermutlich eine vergleichbare Verwandlungskraft zu entfalten vermag. Im Detail ist zu vermuten: Sie wird beim Atomausstieg ihr Spiel mit uns treiben, sicherlich auf der Seite der (potentiellen) Opfer, bei der Bewertung des ‚Risikos’ also.
    Der Atomausstieg gemäß der 13. Novelle des Atomgesetzes (AtG) ist quantitativ identisch mit dem Atomkonsens von Rot-Grün, wie er am 14. Juni 2000 paraphiert worden war. Der hat die KKW-Betreiber der vollen Nutzbarkeit ihres Anlagenparks versichert: Jedes KKW sollte eine Menge an Elektrizität produzieren können, wie in „32 Betriebsjahren“ abzufahren ist. Das bleibt unangetastet.
    Der Beschluss der Koalitionsspitzen in der Nacht vom 29. auf den 30. Mai sah dieses sakrosankten Rechtevolumens wegen keinen Kaskaden-artigen Ausstieg vor sondern einen Wasserfall-artigen, zu Beginn des nächsten Jahrzehnts, und deshalb lediglich eine Spätest-Abschaltung für sechs Reaktoren auf Ende 2021 und für drei Reaktoren auf Ende 2022. Das war vom Rechte-Budget her kalkuliert, da war Platz gelassen für 12 Betriebsjahre. In der Verhandlung am 3. Juni 2011 bestanden die Ministerpräsidenten der Länder auf einer Korrektur, sie wollten einen schrittweisen Ausstieg, sie wollten die Kaskaden-Struktur. Dem hat die Bundeskanzlerin schließlich zugestimmt, sie hat sich damit exakt den eingebauten Puffer abhandeln lassen. Das ist eine Punktlandung, ein Verhandlungsergebnis, vor dem man nur den Hut ziehen kann.
    Mit diesem sehr speziellen Verständnis von „schnellstmöglicher Ausstieg“ hat die Bundesregierung eine Volte geschlagen. Dieses Kriterium einte spontan im März und April beinahe alle gesellschaftlichen Gruppen, von den Kirchen bis zu sämtlichen Oppositionsparteien. Unter ‚schnellstmöglich‘ verstanden die aber ‚so schnell wie versorgungstechnisch möglich‘. Das Verständnis der Bundesregierung ist demgegenüber ‚so schnell wie möglich, ohne das Eigentumsschutzrecht (für Kernkraftwerke) gemäß Art. 14 (3) GG allzu arg zu verletzen’. Die Volte ist konfliktträchtig. Volker Hauff, Mitglied der Ethik-Kommision, hat deshalb auf die Frage „Die Kanzlerin spricht ... vom schnellstmöglichen Ausstieg“ geantwortet „Nein, das ist nicht der schnellstmögliche, das ist der gemütlichste Ausstieg.“ und hat ergänzt „... die Bundesregierung hat kein Recht mehr, sich auf die Arbeit der Ethikkommission zu berufen.“
    So tief ist der Graben inzwischen. Als zentral für die Bestimmung von ‚schnellstmöglich’ erweist sich nun der Konflikt mit dem Eigentumsschutz nach Art. 14 (3) GG. Der Rest-Kapitalwert der Reaktoren gilt sakro-sankt. Ein schrittweiser Ausstieg gemäß dem technisch Möglichen wäre nur darstellbar, wenn von dem Anspruch auf Amortisation über 32 Jahre nach unten abgewichen würde.
    Ein solches Abweichen nach unten wäre nicht per se illegitim. Zur Begründung halte ich als gelernter Ökonom die folgende Argumentation für fachlich korrekt. Ausgangspunkt ist die neue Risiko-Einschätzung nach Fukushima, wie sie die Bundeskanzlerin in ihrer Begründung der Entscheidung für den Kurswechsel am Montag, den 14. März, betont hatte. In wirtschaftliche Kategorien übersetzt bedeutet eine erhöhte Einschätzung des Risikos einen erhöhten Bedarf an Sicherheitsaufwendungen, unveränderte Qualität des Produkts, der Elektrizität, unterstellt; den erhöhten Bedarf an Sicherheitsaufwendungen zu bestimmen, war Sinn des Prüfauftrags an die RSK. Deren Bericht vom 14. Mai gibt einen Eindruck sowohl vom festgestellten Nachrüstbedarf als auch von dem, was ‚noch im Busche’ ist, weil in der kurzen Frist in etlichen Fällen bislang keine abschließenden Feststellungen getroffen werden konnten. Die Offenbarung bislang nicht gesehener Risiken mindert den Vermögenswert eines bestehenden Kernkraftwerks. Ein verminderter Vermögenswert übersetzt sich in eine verminderte zu fordernde Mindestamortisationszeit. Dass die Bundesregierung diese Argumentation vertritt, wäre von ihr zu erwarten, wenn denn die Worte vom 14. März und später (geldwertes) Gewicht haben sollen.
    Realität aber ist: Sie tut es nicht. Warum wohl? Nach Art. 14 Abs. 2 gilt: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich der Allgemeinheit dienen“ – wann, wenn nicht nach Fukushima, sollte man ihn heranziehen dürfen? Die Wahrnehmung seitens der Politik ist jedenfalls, dass sie, im Rahmen der bestehenden (west-)deutsch (geprägt)en Rechtskultur, Abs. 2 keine rechte Durchschlagskraft zutraut. Deswegen, so meine Vermutung, meint die Bundesregierung, das Restrisiko der KKW-Nutzung bis zur bitteren Neige, also unverändert, wie im Juni 2000 vereinbart, den Bürgern zum Aushalten auferlegen zu müssen. Und das auch noch angesichts dessen, dass der Bund mit der 12. Novelle zum AtG, also Ende 2010, das Risiko einer Haftung für einen eventuellen Extra-GAU von den Ländern auf seinen Haushalt übernommen hat. Das Risiko, in einen Konflikt mit der (westdeutsch geprägten) Rechtskultur um den Eigentumsbegriff zu geraten, erweist sich als schwerwiegender als das Restrisiko der Kernkraftwerke in Deutschland. So anscheinend die Einschätzung der Pastorentochter aus dem sozialistisch geprägten östlichen Teil Deutschlands. Und sie wird sich ihren Teil zum noch ausstehenden Lernbedarf im Prozess der Vereinigung denken. Und kein Wort dazu öffentlich sagen.

    Jochen Luhmann, Wuppertal Institut

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