Theologie und Neurowissenschaften
Leitartikel von Christina aus der Au
Es ist über zehn Jahre her, dass zehn Neurowissenschaftler und eine Neurowissenschaftlerin ein vielbeachtetes Manifest herausgaben, in welchem sie sich und der interessierten Öffentlichkeit darüber Rechenschaft ablegten, was die Hirnforscher heute wissen und können.[1] 2014 legte eine andere Gruppe von Neurowissenschaftlern und Philosophen – keine Frau mehr darunter – ein Memorandum vor, in dem sie eine enttäuschende Bilanz zog und eine „reflexive Neurowissenschaft“ propagierte. Wiewohl beide Gruppen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Geisteswissenschaften plädieren, kommt die Theologie bei beiden nicht vor. Kann sie zu dieser Diskussion überhaupt etwas beitragen?
2004: Großer Forschungsoptimismus
Die Verfasser des neurowissenschaftlichen Manifests von 2004 – darunter Gerhard Roth, Wolf Singer und Christof Koch – glaubten damals feststellen zu können, dass sowohl auf der obersten wie der untersten Ebene der Erkenntnis grosse Fortschritte erzielt worden seien. Die Zuordnung von Hirnarealen nach Funktionen wie Sprachverstehen, Musikverarbeitung oder das Erleben von Emotionen sei ebenso einsichtig geworden wie die Funktionsweise in und zwischen einzelnen Neuronen. Nur die so genannte mittlere Ebene, wie Neuronenverbände zusammenarbeiten, um die genannten Funktionen zu ermöglichen, „(n)ach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als »seine« Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant“,[2] all dies sei noch nicht einmal in Ansätzen verstanden.
Das hielt die Neurowissenschaftler allerdings nicht davon ab festzuhalten, dass „auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, (...) wir davon ausgehen [können], dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind. Diese näher zu erforschen ist die Aufgabe der Hirnforschung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten.“[3] Und so prophezeiten sie: „Die Hirnforschung wird in absehbarer Zeit, also in den nächsten 20 bis 30 Jahren, den Zusammenhang zwischen neuroelektrischen und neurochemischen Prozessen einerseits und perzeptiven, kognitiven, psychischen und motorischen Leistungen andererseits so weit erklären können, dass Voraussagen über diese Zusammenhänge in beiden Richtungen mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad möglich sind. Dies bedeutet, man wird widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.“[4]
2014: Enttäuschende Bilanz und Aufruf zur neuen Nachdenklichkeit
Dies sieht zehn Jahre später eine weitere Gruppe von Neurowissenschaftlern, bezeichnenderweise diesmal in Kooperation mit Philosophen, um einiges skeptischer: „Die heutige Bilanz fällt aus unserer Sicht allerdings eher enttäuschend aus. Eine Annäherung an gesetzte Ziele ist nicht in Sicht.“[5] Sie orten die Ursache vor allem in wissenschaftstheoretischen Unzulänglichkeiten, Schwächen im Bereich der Theorie der Neurowissenschaft und unreflektierten naturalistischen Vorannahmen. Insbesondere in der neuronalen Verortung psychischer Phänomene kritisieren sie, dass die Feststellung reiner Korrelationen („dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen“[6]) trivial sei und noch keine Kausalität begründe. Eine differenzierte Theorie des Gehirns müsse einerseits – so die Herausforderung an die theoretischen Neurowissenschaften – systemtheoretisch und vor allem mathematisch informiert die nichtlineare Dynamik und Komplexität genauer in den Blick nehmen, andererseits die grundlegende Perspektivendifferenz zwischen der subjektiven Erste-Person-Perspektive und der objektiven Dritte-Person-Perspektive ernst nehmen. Hier unterscheiden sich nämlich auch die verschiedenen Neurowissenschaften untereinander. Ob die Gehirnaktivitäten von Versuchspersonen über die Ableitung von neuronaler Aktivität oder über das Medium Sprache untersucht werden, sei ein Methodenmix, der als solcher auch nochmals eigens in den Blick genommen werden müsse.
So rufen diese Neurowissenschaftler und Philosophen zu einer Zäsur auf; sie sehen Fortschritt nicht in der Fortführung eines methodisch-technischen Aktivismus, sondern in einer weiter gefassten Neurobiologie, welche experimentelle, klinische und theoretische Forschung umfasst. Und sie plädieren für eine Ausweitung der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen wie der Systemwissenschaft, aber vor allem auch der Philosophie, die „eine jahrhundertelange Erfahrung mit Grundfragen zu unserem Wissen von der Welt hat, und im Besonderen zu Fragen des Menschenbildes (philosophische Anthropologie), der Ethik und der Wissenschaftstheorie wertvolle Erkenntnisse einbringen kann.“[7] Und sie fordern eine neue Nachdenklichkeit, die sich weder auf eine Koexistenz unterschiedlicher disziplinärer Ansätze noch auf eine assoziative Interdisziplinarität von Sammelbänden beschränkt, sondern eine integriert interdisziplinäre Forschung multidisziplinär qualifizierter Forschender befördert. Schliesslich geht es „um nichts weniger als die Frage: Was ist der Mensch?“[8]
Der Mensch als Autopoiet
Unabhängig von ihren Ansprüchen haben allerdings die Entwicklungen und deren medienwirksame Diskussionen in den Neurowissenschaften unser Menschenbild bereits verändert. Hat schon die Gentechnik ethische Fragen nach der öffentlichen Verfügbarkeit und der Manipulierbarkeit des Menschen aufgeworfen, so werden diese noch viel brisanter im Bereich des Gehirns. Martha Farah, Direktorin des Center for Cognitive Neuroscience an der Universität Pennsylvania, skizziert Zukunftsmöglichkeiten: „For the first time it may be possible to breach the privacy of the human mind, and judge people not only by their actions, but also by their thoughts and predilections. (...) In principle and increasingly in practice, imaging can be used to infer people’s psychological states and traits.”[9] Sie beschreibt, wie Lügendetektoren zuverlässiger werden sollen, weil es künftig nicht mehr nur der abgewandte Blick, der Schweißausbruch oder der Hautwiderstand sind, welche die Lüge verraten sollen, sondern die wissenschaftliche Messung von Hirnströmen. Auch wenn vieles davon erst Zukunftsmusik ist,[10] so verändern solche Forschungen und Prognosen unser Menschenbild viel tiefgreifender, als es Schlagzeilen über die neuronale Bedingtheit von freiem Willen, Gefühlen und subjektivem Selbst sein können. Sie implizieren, dass der Mensch bis in sein Innerstes hinein der Beobachtung von außen zugänglich ist. Während Hannah Arendt noch unwidersprochen schreiben konnte: „Das unverwechselbar einmalige des Wer-einer-ist, das sich so handgreiflich im Sprechen und Handeln manifestiert, entzieht sich jedem Versuch, es eindeutig in Worte zu fassen. Sobald wir versuchen zu sagen, wer jemand ist, beginnen wir Eigenschaften zu beschreiben, die dieser Jemand mit anderen teilt und die ihm gerade nicht in seiner Einmaligkeit zugehören“,[11] zielen solche Forschungen darauf ab, diesen Jemand gerade in seiner Einmaligkeit dem wissenschaftlich-objektivierenden Blick zugänglich zu machen. Dies trifft das traditionelle Menschenbild tiefer, als eine Auflösung der Willensfreiheit und des Selbst dies zu tun vermag. Der Kern der neurowissenschaftlichen Herausforderung des Manifests von 2004 liegt darin, dass ihr neues Menschenbild beansprucht, genau dieses unverwechselbar Einmalige beschreibbar zu machen. Wenn unsere innersten Erfahrungen, unsere Verantwortlichkeit und unser Selbst (und damit das „Wer“ des „Wer-einer-ist“) verlustfrei in neuronaler Begrifflichkeit reformuliert zu werden beansprucht, dann werden tokens zu types, konkrete Individuen werden zu „Fällen von“, der Mensch als Jemand wird zum Niemand[12] – und damit zum Etwas.
Daran ändert sich allerdings auch nicht viel, wenn sich nun statt eines mehr oder weniger reduktionistischen neurowissenschaftlichen Ansatzes ein integriert interdisziplinäres und wissenschaftstheoretisch reflektiertes Kollektiv der Nachdenklichkeit daran macht, den Menschen in seiner nichtlinearen Dynamik und zirkulären Kausalität zu erforschen. Zwar betonen diese Autoren die grundlegende Perspektivendifferenz zwischen der Ersten- und der Dritten-Person-Perspektive und wollen sich auf die Kompetenz der Philosophie stützen, alltagsrelevantes Wissen und auch Ethik mit einzubringen. Die Perspektive des handelnden und empfindenden Ich soll gerade nicht in die Aktivität des Gehirns aufgelöst werden – aber eben auch nicht beziehungslos und rein assoziativ neben die Perspektive der messenden und beschreibenden Neurowissenschaftlerin gestellt werden. Im Gegenteil, die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen, insbesondere mit den in Begriffsklärung erfahrenen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, soll gerade dazu führen, dem „entscheidende[n] Mangel“ abzuhelfen, „dass bislang keine empiriegestützte Gehirntheorie im Sinne einer umfassenden Gesamtschau entwickelt werden konnte.“[13] Nichts soll dem Blick der Forschenden entzogen bleiben, der nun nicht mehr nur analytisch geschärft, sondern auch hermeneutisch geübt ist, und der mit Hilfe dieser mehrdimensionalen konzeptuellen Werkzeuge die erstperspektivische Subjektivität einsichtig, und das heisst letztlich dann doch, einer beschreibenden Außenperspektive zugänglich machen soll.
Diese Außenperspektive ist aber dann doch wieder eine Innenperspektive, nämlich diejenige des Menschen als Vertreter seiner Species. Der Mensch beleuchtet und erhellt den Menschen in all seinen Lebensvollzügen. Und dabei beleuchtet er auch die biologische Bedingtheit dieser Vollzüge und entdeckt dabei – wen wundert’s? – Menschliches. Der Mensch ist eben keine Fledermaus. Die Grenzen seiner neuronalen Fähigkeiten sind die Grenzen seiner Welt.
Davon lässt sich aber kein Neurowissenschaftler und keine Philosophin irritieren; selbstverständlich haben wir es immer mit Wissenschaft innerhalb der rationalen und sinnlichen Grenzen der reinen Menschlichkeit zu tun. Und auch wenn die Philosophie den Neurowissenschaften nicht nur die wissenschaftstheoretische Schleppe hinterher, sondern gelegentlich auch die entsprechende Fackel vorausträgt, so sind sich doch beide über den Weg einig: Es geht darum, den Menschen mit menschlichen Mitteln zu untersuchen, seien sie nun empirisch, analytisch oder hermeneutisch. So oder so kann er nicht anders, als sowohl die Kriterien als auch die Inhalte seiner Anthropologie zu konstruieren. Der Mensch ist damit seiner Wissenschaft Subjekt und Objekt zugleich und konstituiert sich damit in diesem Prozess selber. Oder mit Hegel gesagt, „dass das Bewusstsein jetzt zwei Gegenstände hat, den einen das erste Ansich, den zweiten das Für-es-Sein dieses Ansich. Der letztere scheint zunächst nur die Reflexion des Bewusstseins in sich selbst zu sein, ein Vorstellen nicht eines Gegenstandes, sondern nur seines Wissens von jenem ersten.“[14] Für Hegel wäre die wahre Wissenschaft des Geistes die philosophische Reflexion des naturwissenschaftlichen Bewusstseins, nicht als die individuellen Geister der Versuchspersonen im Computertomograph, sondern als des absoluten Weltgeistes, wie er sich in den konkreten Gestalten des Bewusstseins hier und jetzt manifestiert.
Die heutigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind bescheidener – oder postmoderner. Kein absoluter Weltgeist, „nur“ die allgemein menschliche (d.h. in der Species Mensch neuronal realisierte) Struktur des Denkens, Fühlens und Handelns soll aufgeklärt werden, und dies mit Hilfe der philosophisch über sich selbst aufgeklärten empirischen Wissenschaften. Oder wie es der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger formuliert: „Was wir in der Vergangenheit und insbesondere alltagspsychologisch „das“ Selbst genannt haben, ist keine ontologische Substanz, keine kontextunabhängige und unwandelbare Essenz (...) und auch keine besondere Art von Ding (d.h. kein Individuum im Sinne der philosophischen Metaphysik), sondern ein dynamischer Vorgang (...), nämlich die Selbstorganisation einer sehr speziellen Art von repräsentationalem Inhalt in einer sehr speziellen Klasse von informationsverarbeitenden Systemen.“[15]
Für diese spezielle Art ist die Philosophin zuständig, für die Funktionsweise der Neurowissenschaftler. Mehr braucht es nicht.
Der Mensch als der Angeredete
Warum also spielt die Theologie keine Rolle in diesem mittlerweile breit geforderten interdisziplinären Zusammenspiel der Wissenschaften zur Erforschung des Menschen? Weil sie sich – jedenfalls solange sie sich als Theologie versteht und nicht als Kulturwissenschaft des Christentums – diesem autopoietischen Verständnis des Menschen von Grunde auf verweigern muss.
Eine theologische Anthropologie begründet den Menschen nicht aus sich selbst heraus, weder aus seiner Erkenntnis- noch aus seiner Erlebnisfähigkeit; weder das philosophisch-cartesische „ich denke, also bin ich“, noch das „ich fühle, also bin ich“ des Neurowissenschaftlers Antonio Damasio[16] kann als Ausgangspunkt für das Nachdenken über den Menschen genommen werden. Der Mensch ist theologisch gesehen nicht ohne seinen Gottesbezug her zu verstehen – oder genauer: nicht ohne die Anrede Gottes an ihn.[17]
Damit nimmt der Mensch sich bzw. die Welt zwar in der Ersten- und der Dritten-Person-Perspektive in einer bestimmten Perspektive aktiv wahr, er wird aber darüber hinaus aber auch selber als passiv in einer Perspektive lokalisiert verstanden, und dies weist über die Erkenntnis der eigenen Perspektivität hinaus auf etwas jenseits dieser Perspektive, nämlich auf Gott, als die unsere Existenz bestimmende Wirklichkeit.
Wenn damit die Theologie die Frage nach dem Menschen nicht anders als coram Deo verstehen und beantworten kann, d.h. als fundamental gegründet in Rezeptivität und Responsivität, dann zeigt sich die Struktur der menschlichen Subjektivität in einem anderen Licht, nämlich nicht selbstbegründet und nicht unhintergehbar, sondern in seiner – allerdings erst a posteriori erkannten und bekannten – Abhängigkeit von der vorgängigen Anrede Gottes.
Der Dortmunder Systematiker Ernstpeter Maurer argumentiert im Anschluss an Luther und in explizitem Bezug auf die Befunde der Neurowissenschaften, „dass eine Zentralinstanz namens „Ich“ kaum wahrscheinlich ist – und sie ist in der theologischen Sicht auch gar nicht wünschenswert.“[18] Den Menschen, der sein Ich krampfhaft aktiv zu fixieren sucht, nennt Luther incurvatus in se ipsum, und es ist dieser sündige Mensch, der im Zwang steht, seine Selbsterkenntnis ganz und eindeutig bei sich selber fest zu machen. Er ist es, der aus Angst vor der Auflösung an einem Ich festhalten muss. Der befreite Christenmensch hat sein Zentrum außerhalb seiner selbst, und ist „gehalten in Gottes schöpferischem Geistwirken.“[19] Damit hat auch Luther dem substantialistischen Menschenbild seiner (und unserer) Zeit ein relationales Konzept entgegengehalten, welches das Selbstsein immer schon intrinsisch an die Gottesbeziehung knüpft und so ein in dieser Hinsicht gelassenes Gespräch zwischen Theologie und Neurowissenschaften ermöglicht.[20]
Ein Dialog?
Ein gelassenes Gespräch? Der Anstoß zum Dialog zwischen den Neurowissenschaften und der Theologie kommt jedenfalls nicht von den Neurowissenschaften. Auch wenn deren selbstkritischere Vertreter erkannt haben, dass eine philosophische Reflexion ihrer Methoden und Begrifflichkeiten die eigene Arbeit nur voranbringen kann, so kommen sie selbstredend ohne Theologie aus. Sogar dort, wo sie von der Seele oder von Transzendenzerfahrungen reden, interessiert sie lediglich das neuronal realisierte Phänomen, dessen mentales Korrelat nach Selbstbezeichnung und bestenfalls religionssoziologischen Kategorien eingeordnet werden kann.
So hat sich die Theologie mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass ganz anders von Mensch und Welt gesprochen werden kann, als sie es tut. Gott spielt im Dialog zwischen Neurowissenschaften und Philosophie keine Rolle, auch nicht diejenige des Abwesenden – als solcher wäre er ja immer noch dem Denken als abwesend gegenwärtig. Hier vom ‘methodischen Atheismus’ zu sprechen ist irreführend. Ein solches Denken braucht Gott überhaupt nicht, auch nicht als den Abwesenden, es ist mündig geworden. Bonhoeffers Analyse trifft den Punkt: „Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten. Ein erbaulicher Naturwissenschaftler, Mediziner etc. ist ein Zwitter.“[21] Oder wie Jüngel es formuliert: „Gott ist weltlich nicht notwendig.“[22] Damit ist es auch nicht notwendig, diesen Gott auszublenden. Was also soll die Welt – und damit die Wissenschaften – eine Denkweise interessieren, die ihrerseits das Angeredetsein durch diesen Gott als ihre Denkvoraussetzung bekennt? Aus ihrer Sicht ist ein Dialog nicht notwendig.
Notwendig ist er für die Theologie – und für diejenigen unter den Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern, welche Sonntags und vor den Türen ihrer Laboratorien deren Voraussetzungen teilen –, um diese Welt daran zu erinnern, dass der Mensch fundamental unterbestimmt ist, wenn nicht sein konstitutives Bezogensein etwas/jemanden außerhalb seiner selbst mitbedacht wird. Sie werden sich deswegen immer wieder um einen Dialog bemühen müssen, aus eigenem Interesse an den Erkenntnissen der Welt und in der selbstkritischen Haltung, sich davon zur Klärung und Reflexion theologischen Redens und Denkens angesichts der Welt coram Deo herausfordern zu lassen und umgekehrt die anderen herauszufordern. Von Gott angeredet zu werden ist nicht eine eigene Erfahrung, sondern ein Ereignis, das in, mit und unter weltlicher Erfahrungen stattfindet. Der christlichen Theologie ist aufgetragen „das spezifisch Christliche in Hinsicht auf die profane Welterfahrung so zur Sprache zu bringen, dass damit Grundelemente religiöser Erfahrung überhaupt angesprochen und zum Bewusstsein gebracht werden.“[23]
Das ist insofern eine zweifache Herausforderung an die Theologie selber, als es einerseits um eine Wiedergewinnung von Sprache geht, in der in der Welt- und Selbsterfahrung religiöse Erfahrung angesprochen werden kann. Und andererseits ist in dieser Auseinandersetzung immer auch der Stachel des Zweifels verborgen. Wenn unser Gehirn nicht nur eine Fabrikationsstätte von Welt- und Selbstbildern, sondern auch „eine Werkstatt von Götzenbildern“ ist, wie Calvin ganz ohne Neurobiologie schon formulieren konnte, wie kann ich dann sicher sein, dass auch dieser Gott als Woher meiner Perspektive nicht doch nichts anderes ist als ein Element meiner Perspektive? Wie kann ich unter den Bedingungen des Konstruktivismus, dessen Plausibilität die Neurowissenschaftler eindrucksvoll aufzeigen, Gott überhaupt noch denken?[24] Wie kann ich den Gott des Alten und des Neuen Testaments zusammendenken mit einem Gott, „der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott“?[25]
Um der eigenen Sprachfähigkeit, aber auch um der eigenen Redlichkeit willen, kann die Theologie deswegen der Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften, als den buchstäblich eindringlichsten aller Naturwissenschaften nicht aus dem Weg gehen. Ob es von hier aus zu einem wirklichen Dialog kommt, wird dann allerdings nicht nur an den Theologinnen und Theologen liegen.
Christina Aus der Au
Veröffentlicht im November 2016, Layout bearbeitet am 22.09.2017
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Mehr zur Person und Biographie von Prof. Dr. Christina Aus der Au finden Sie hier.
[1] Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn und Geist 6/2004, 30-37.
[2] Manifest, a.a.O., 33.
[3] Ebd.
[4] Manifest, a.a.O., 36.
[5] Memorandum, www.upd.unibe.ch/research/seminarthemen/Memorandum%20Neurowissenschaft.pdf (30.7.2018).
[6] Manifest, a.a.O., 33.
[7] Memorandum, a.a.O.
[8] Ebd.
[9] Martha J. Farah, Neuroethics: The Practical and the Philosophical, Trends in Cognitive Sciences, 9/1 (2005), 34-40, 34.
[10] Allerdings wird die „New Truth Verification Technology” schon vermarktet, vgl. www.noliemri.com [1.10.2016].
[11] Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1994, 222.
[12] Vgl. Thomas Metzinger, Being No One. The Self-Model Theory of Subjectivity, Cambridge, Mass. 2003.
[13] Memorandum, a.a.O.
[14] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1970 (orig. 1807), 79.
[15] Thomas Metzinger, Das Selbst. Rohfassung, www.blogs.uni-mainz.de/fb05philosophie/files/2013/04/Das_Selbst_penultimate.pdf, erscheint gekürzt in Schrenk, M. (Hg), Handbuch Metaphysik. Stuttgart und Weimar 2016, Hervorhebung CA.
[16] Antonio Damasio, Ich fühle, als bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins. München 2000.
[17] Ausführlicher in Christina Aus der Au, Im Horizont der Anrede. Das theologische Menschenbild und seine Herausforderung durch die Neurowissenschaften. Göttingen 2011.
[18] Ernstpeter Maurer, Der unverfügbare Wille, Berliner theologische Zeitschrift, Beiheft 2005, 94-109, 102.
[19] Maurer a.a.O., 106.
[20] Maurer, a.a.O., 105, vgl. dazu auch Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther. Göttingen 1967.
[21] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. München 1951, 177.
[22] Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Tübingen 1977, 19.
[23] Gerhard Ebeling, Die Klage über das Erfahrungsdefizit in der Theologie als frage nach ihrer Sache, in: Wort und Glaube, Bd III. Tübingen 1975, 3-27, 24.
[24] Vgl. Ulrich Körtner, Gott und Gehirn. Neurophysiologische Herausforderungen für die Theologie, in: Ch. Ammer und A. Lindemann (Hg.): Hirnforschung und Menschenbild. Leipzig 2012, 115-148.
[25] Bonhoeffer, a.a.O., 178.
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Was weiss die Hirnforschung heute?
Kann die Theologie etwas zu dieser Diskussion beitragen?
In ihrem Leitartikel schildert und deutet Christina aus der Au die Entwicklung der Neurowissenschaften in den letzten Jahren. Was denken Sie über diese Entwicklungen? Haben die Neurowissenschaftler gehalten, was sie versprachen? Kann die Theologie zu der Diskussion etwas beitragen?
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