Neuroethik
Die Neurowissenschaften sind nicht einfach ein spezieller Bereich innerhalb der Biologie. Sie werfen ganz neue Fragen auf, weil sie auf das menschliche Bewusstsein in seiner ganzen Breite Einfluss nehmen, auf kognitive Fähigkeiten ebenso wie auf emotionale Erfahrungen oder einfach sinnliche Empfindungen.
Man kann die Probleme, die die Neuroethik behandelt, zwei großen Themenbereichen zuordnen. Auf der einen Seite verändern die Erkenntnisse unser Menschenbild. So ist es kaum noch möglich, von einer isolierbaren Vernunft zu reden als einem besonderen, abgegrenzten Vermögen des Menschen. Forscher wie Damasio und LeDoux haben nachgewiesen, dass unser Denken auf ganze enge Weise mit emotionalen und Wahrnehmungsprozessen verbunden ist. Die Debatte um die Willensfreiheit hat vor einigen Jahren die Gemüter bewegt. Müssen wir nun von einer bestimmten Interpretation der Willensfreiheit Abschied nehmen? Wie beschreiben wir künftig moralisches Verhalten? Ist Moral nur eine Interpretation der Innensicht, die sich eigentlich als ein neuronaler Prozess darstellen lässt? Eine ähnliche Frage kann man an das Verständnis von religiösen Erlebnissen stellen. Sind auch religiöse Erfahrungen „nichts als“ bestimmte außergewöhnlich starke Aktivitäten im Bereich der Schläfenlappen? Man sieht also: mit den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen sind viele Vorstellungen über den Menschen zumindest fragwürdig geworden. Wie kann man philosophisch und theologisch darauf reagieren?
Das zweite große Themenfeld der Neuroethik betrifft die neuen Handlungsmöglichkeiten, die durch die Neurowissenschaften entstehen. Da sind zunächst die Analysetechniken. Ein Problem entsteht, wenn man sehr viele Probanden zu wissenschaftlichen Zwecken untersuchte. Wie geht man mit Zufallsbefunden über Krankheiten im Gehirn um, sollten, dürfen, müssen sie dem Probanden mitgeteilt werden? Die bildgebenden Verfahren können auch genutzt werden, um den Gedanken von Menschen auf die Spur zu kommen, etwa charakteristische Aktivitäten beim Lügen. Darf man die Verfahren als Lügendetektoren einsetzen, sind die Gedanken noch frei, wer grenzt den Gebrauch der Analyseverfahren ein? Weitere Fragen ergeben sich neue Möglichkeiten in der klinischen Medizin. Wenn man mit invasiven Methoden in das Gehirn Patienten von schweren Krankheiten befreien kann (Epilepsie, Parkinson, schwere Depressionen), welche Veränderungen der Persönlichkeit darf man dabei in Kauf nehmen, wo ist eine Grenze, die man nicht überschreiten darf, da sich sonst die Person selbst irreversibel ändert? Schließlich kann man auch mit Psychopharmaka oder später vielleicht auch invasiv mit Zusatzgeräten, die Fähigkeiten gesunder Menschen erhöhen. Sind diese Enhancement-Strategien erlaubt, wie steht es mit der Vergleichbarkeit mit anderen Menschen etwa in Prüfungssituationen, in Bewerbungsverfahren oder ähnlichem?
Frank Vogelsang
Leitartikel zum Thema
Dirk Evers, Heute von der Seele reden... (Html)
Die Seele ist in Verruf geraten. Zumindest in der empirischen Wissenschaft, in der Neurophysiologie und Hirnforschung spielt sie keine Rolle mehr, ist der Gebrauch dieses Begriffs vielmehr verdächtig. Dem steht die Hartnäckigkeit gegenüber, mit der sich der Seelenbegriff im alltäglichen Sprachgebrauch gehalten hat. Wir müssen deshalb klären: Wofür steht der Seelenbegriff eigentlich? Wofür kann er noch stehen? Brauchen wir ihn, ist er unverzichtbar?
Christina Aus der Au, Theologie und Neurowissenschaften (Html)
Es ist über zehn Jahre her, dass zehn Neurowissenschaftler und eine Neurowissenschaftlerin ein vielbeachtetes Manifest herausgaben, in welchem sie sich und der interessierten Öffentlichkeit darüber Rechenschaft ablegten, was die Hirnforscher heute wissen und können. 2014 legte eine andere Gruppe von Neurowissenschaftlern und Philosophen – keine Frau mehr darunter – ein Memorandum vor, in dem sie eine enttäuschende Bilanz zog und eine „reflexive Neurowissenschaft“ propagierte. Wiewohl beide Gruppen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Geisteswissenschaften plädieren, kommt die Theologie bei beiden nicht vor. Kann sie zu dieser Diskussion überhaupt etwas beitragen?
Hans-Dieter Mutschler, Was ist Bewusstsein? (Html)
‚Bewusstsein’ scheint eines der schwierigsten Themen überhaupt. Der Grund liegt darin, dass wir zwar Gegenstände durch das Bewusstsein sehen, es selbst aber nicht. Es ist, wie man oft gesagt hat, ‚durchsichtig’. Hinzu kommt, dass Bewusstseins-zustände nur dem gegeben sind, der sie hat. Sie sind also ‚privat’, ausserdem unkorrigierbar: Habe ich Zahnschmerzen, dann habe ich Zahnschmerzen, punktum. Während ich mich über alle zeiträumlichen Gegenstände täuschen kann, ist dies bei meinen eigenen Erlebnisqualitäten unmöglich. Hier gibt es keine Differenz zwischen Sein und Schein. Was mir erscheint ist, was es ist.
Wolfgang Achtner, Gibt es einen freien Willen? (Html)
Findet die These prominenter Neurowissenschaftler, der Mensch habe keinen freien Willen und daher auch keine Verantwortung, deswegen in den Medien ein so großes Echo weil es die weitverbreitete Tendenz in unserer Gesellschaft bedient, Verantwortung auf andere abzuschieben, Eigeninitiative möglichst zu unterlassen und anstehende Probleme anderen anzulasten, anstatt sie aus eigener Verantwortung in Angriff zu nehmen?
Dateien zum Download
Christina Aus der Au, Wider die Beschreibbarkeit des Menschen (pdf)
Gut 150 Jahre nach dem kommunistischen Manifest hat 2004 ein weiteres Manifest zumindest feuilletonistische Wellen geworfen. Zehn Neurowissenschaftler und eine Neurowissenschaftlerin deutscher Herkunft haben darin den Stand ihrer Forschung und ihrer Ansprüche zusammengefasst. Sie verweisen auf das schon Erreichte, skizzieren das Mögliche und bieten zum Schluss den Geisteswissenschaften die Hand zur Erarbeitung eines neuen Menschenbildes. Sie selber liefern dazu die wissenschaftlichen Fakten, erklären sich aber explizit unzuständig im Bereich des Geistes, des freien Willens und der Personalität.
(aus: Frank Vogelsang et. al., Theologie und Naturwissenschaften, Bonn 2006)
Dirk Evers, Heute von der Seele reden (pdf mit Zählmarke)
Die „Seele“ ist in Verruf geraten. Zumindest in der empirischen Wissenschaft, in der Neurophysiologie und Hirnforschung spielt sie keine Rolle mehr, ist der Gebrauch dieses Begriffs vielmehr verdächtig. Dem steht die Hartnäckigkeit gegenüber, mit der sich der Seelenbegriff bis heute gehalten hat. Wir müssen deshalb klären: Wofür steht der Seelenbegriff eigentlich? Wofür kann er noch stehen? Brauchen wir ihn, ist er unverzichtbar?
(exklusiv auf theologie-naturwissenschaften.de)
Rebekka A. Klein, Ein experimentelles Modell vom Menschen? Auf den Spuren einer neurophysiologischen Objektivierung der sozialen Erfahrung (pdf mit Zählmarke)
Der vorliegende Artikel unternimmt es, das Feld der empirischen Anthropologie exemplarisch anhand eines experimentellen Modells vom Menschen zu beschreiben. Zu diesem Zweck verknüpft er die Perspektiven von Neuroökonomik, Phänomenologie und Theologie und fokussiert auf die ‚Wahrnehmung des anderen Menschen’, die in ihren Strukturmomenten als soziale Erfahrung beschrieben werden kann. Die Leitfrage der folgenden Überlegungen lautet: Welche Probleme lassen sich im Grenzbereich dessen aufzeigen, was verschiedene Interpretationsperspektiven innerhalb ihres methodischen Zugangs als Grundstruktur der sozialen Erfahrung darstellen?
(aus: Frank Vogelsang, Hubert Meisinger (Hg.),Herausforderungen und Grenzen wissenschaftlicher Modelle in Naturwissenschaften und Theologie, Bonn 2008)
Hans-Dieter Mutschler, Was ist Bewusstsein? (pdf)
Das Bewusstsein ist ein Rätsel. Es verhält sich nicht wie gewöhnliche Gegenstände in Raum und Zeit, auf die man mit dem Finger zeigen und über die man Urteile fällen kann, die wahr oder falsch sind.
(exklusiv auf theologie-naturwissenschaften.de)
Frank Vogelsang, Enhancement - Die Verbesserung des Menschen als kulturelle Herausforderung (pdf)
Im Mittelpunkt steht das Neuroenhancement, die „Optimierung" des Menschen mit neurowissenschaftlichem Wissen. Neue Technologien bieten neue Möglichkeiten und wecken neue Phantasien. Erst die sich herausschälenden Möglichkeiten einer Realisierung befördert die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Diskussion und der Orientierung. Doch oft sind die Wünsche, die dabei einen Ausdruck finden, schon wesentlich älter. So ist auch die Idee, den Menschen mit Hilfe wissenschaftlicher und technischer Eingriffe zu verbessern, deutlich älter als die Neurowissenschaften selbst. Diese Annahme ist Anlass zu einer kulturellen Auseinandersetzung, es geht um nichts weniger als um die Frage, welche Entwicklung die menschliche Kultur nimmt, welche Bilder vom gelingenden Leben dabei leiten.
(aus: Frank Vogelsang, Christian Hoppe (Hg.), Sollen wir den Menschen verbessern?, Bonn 2012)